Lessons to learn: Feministische Kritik an "Hartz IV"

Lesedauer: 5 Minuten

Einleitung

1. April 2008


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Jede Überlegung, wie ein System der Grundsicherung geschlechtergerecht ausgestaltet werden könnte, kommt um eine klare Bestandsaufnahme der letzten Sozialreformen und der daraus resultierenden Situation für Frauen nicht umhin. Dabei zeigt sich, dass insbesondere Frauen unter Hartz IV schlechtergestellt wurden, und die hier benannten Benachteiligungen immer wieder an einigen Kernprinzipien der Reform festzumachen sind.

Besondere Problemlagen für Frauen ergeben sich aus dem grundsätzlichen Anspruch des "aktivierenden Sozialstaats" mit dem Dogma des Forderns, was sich aber in der Ausgestaltung als paternalistische Konstruktion darstellt.

Weitere Problemfelder sind die Berechnung auf der Basis von Bedarfsgemeinschaften, die geringen Zuverdiestmöglichkeiten, der insgesamt unter den aktuellen Lebenshaltungskosten und damit unter dem Existenzminimum liegende Regelsatz sowie mangelnde Einbettung in einen Maßnahmenkatalog zur Verbesserung sozialer Infrastruktur und öffentlicher Güter.

Bedarfsgemeinschaft statt individueller Anspruch


Der wesentliche Kritikpunkt an Hartz IV ist die gegenüber der früheren Sozial- und Arbeitslosenhilfe nochmals verschärfte Anrechung des Einkommens von PartnerInnen und in der so genannten „Bedarfsgemeinschaft“ lebenden weiteren Familienmitgliedern, zu denen auch minderjährige Kinder gehören. Dies bedeutet, dass es keinen Anspruch auf individuelle materielle Existenzsicherung gibt. Angesich der Feststellung, dass das Alg II unter dem Minimalbedarfs an Lebenshaltungskosten liegt, führt diese Regelung zu einer massiven Familiarisierung des Armutsrisikos. Alg II trägt dazu bei, Frauen nicht als eigenständige BürgerInnen mit individuellen Rechten, sondern als vom Partner (und dessen Einkommen) „abgeleitete Wesen“ zu verstehen. Viele Frauen, deren Partner Einkommen erzielen, welche über der (ohnehin geringen) Bemessungsgrenze für Leistungsbezug liegen, verlieren damit ihren Anspruch auf Unterstützung und fallen in direkte Abhängigkeit vom Partner, was traditionelle Rollenbilder und Arbeitsteilung reproduziert und stärkt, eigene Existenzsicherung aber auf lange Zeit verhindert, da mit Leistungsanspruch beispielsweise auch Rentenansprüche verknüpft sind. Umgekehrt kann dies natürlich grundsätzlich auch Männern passieren, dennoch dürften Frauen von dieser Problematik weitaus häufiger betroffen sein, weil diese öfter ihre Erwerbsbiographie zu Gunsten von Kindererziehung oder Pflege unterbrechen, in Teilzeit arbeiten oder auch einfach nur schlechter bezahlte Tätigkeiten ausüben, zumal die Lohndiskriminierung in Deutschland noch immer eine der höchsten in Europa ist und das Erwerbseinkommen von Frauen im Durchschnitt mindestens 20% unter jenem der Männer liegt(1).

(1) siehe dazu z.B. 3. Kapitel des Gender-Datenreports der Bundesregierung von 2005, http://www.bmfsfj.de/Publikationen/genderreport/root.html

Geringer Zuverdienst, geringer Regelsatz und Arbeitszwang


Der überwiegende Aspekt des „Forderns“ und das demgegenüber unterentwickelte „Fördern“ als Motto der Hartz-Reformen trägt paternalistische Züge, da der Staat dem Individuum seine Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Selbstorganisation in gewisser Weise abspricht und sich stattdessen auf eine nahezu bevormundende Rolle konzentriert. Der mit dem Zugestehen von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einhergehende Anspruch einer „Gegenleistung“ der LeistungsempfängerInnen kann als Zwang ausgelegt werden, jede nach Maßgabe der Behörden als zumutbar empfundene Arbeit ausüben zu müssen. Die Ablehnung dessen kann Sanktionen vor allem im Leistungsbezug nach sich ziehen, sodass de facto ein Zwang zu vermittelter Arbeit besteht. Was allerdings zumutbare Arbeit ist, kann für Männer und Frauen ganz unterschiedliches bedeuten, zumal dann, wenn Frauen innerhalb der Familie die Fürsorge für Kinder oder zu pflegende Angehörige übernehmen, wie dies in einem Großteil von Familien noch immer der Fall ist. Für Frauen, die bereits in höherem Maße in Familienarbeit eingebunden sind, können für Arbeitswege oder -zeiten, die für Alleinstehende oder keine Fürsorgearbeit leistende Menschen unproblematisch sind, schnell sehr schwierig werden und eine große Belastung darstellen. Wenn es sich dann bei der angebotenen Arbeitsstelle noch um eine geringfügige Beschäftigung oder eine Arbeit im Niedriglohnsektor handelt, was leider überwiegend für Frauen der Fall ist, ist es möglich, dass trotz der angenommenen Arbeit kein Einkommen über dem Existenzminimum erzielt wird. Dies wird durch die geringen Zuverdienstmöglichkeiten sowie die Anrechnung der PartnerInneneinkommen für die Leistungshöhe der Bedarfsgemeinschaft widerum verschärft. Insofern ist Hartz IV gerade für Frauen eher eine Entmutigung zu Erwerbsarbeit und erwirkt eine Kultur der Abhängigkeit. Konkret kann das bedeuten, dass eine Frau mit einem geringen Einkommen dennoch über kein existenzsicherndes eigenes Einkommen verfügt, weil ihr geringes Einkommen für den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft herangezogen wird. So werden EmpfängerInnen und hierbei aus strukturellen Gründen insbesondere Frauen daran gehindert, aus dem Kreislauf der „abgeleiteten Person“ und fehlender eigenständiger Existenzsicherung auszubrechen.

Hinzu kommt das völlig unzureichende Angebot bzw. die unflexible Anwendung von Integrationsmaßnahmen, Qualifizierung und Vermittlung, um Arbeitslose auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt fallspezifisch zu unterstützen. Gerade den häufiger unterbrochenen Erwerbsbiographien von Frauen sollte ein Konzept wirklicher individueller Unterstützung und Beratung Rechnung tragen.

Mangelhafte Rahmenbedingungen zu Qualifikation, Sozialer Instrastruktur etc.


Zudem fehlt die Geschlechtersensibilität nicht nur im Bereich der direkten Maßnahmen und des Leistungsbezuges, sondern auch in der Weiterentwicklung und -strukturierung des Arbeitsmarktes selbst. Ohne begleitende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für eine geschlechtergerechte Ausgestaltung von Zugängen zu Arbeit und gleichem Lohn für Männer und Frauen bleibt die strukturelle Benachteiligung von Frauen bestehen, auch wenn sie aus dem Leistungsbezug herauskommen. Gleiches gilt für die soziale Infrastruktur: Es müssen überzeugende, qualitativ hochwertige und quantitativ ausreichende Möglichkeiten zur Betreuung, Bildung und Pflege von Familienangehörigen geschaffen werden, wenn besonders Frauen der Schritt von unbezahlter, abhängiger Familienarbeit hin zu existenzsichernder Erwerbsarbeit erleichtert werden soll. Dazu ist aber auch ein Vertrauen in den Sozialstaat notwendig, das durch das paternalistische, fordernde und sanktionierende Hartz IV-System nicht aufgebaut werden kann bzw. dessen Ansätze durch „Hartz IV“ nur weiter reduziert worden sind. Die politische Vernachlässigung dieser Bereiche durch die letzten Sozialreformen bewirkte eine dauerhafte Benachteiligung insbesondere von Frauen, ohne dass komplementär eine Empowerment-Strategie vorgesehen wäre.