30 Jahre Deutscher Herbst: Gedenken als Kulturkampf

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19. März 2008
Beitrag von Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

Dieser Tage wurde in Berlin mit Unterstützung der Bundesregierung eine Gedenkfeier für die 36 Menschen ausgerichtet, die der „Roten Armee Fraktion“ zum Opfer gefallen sind. Das war überfällig, und zugleich war es ein beklemmendes Ereignis. Man spürte fast körperlich, wie gegenwärtig die Verletzungen, Ängste und Aggressionen des „Deutschen Herbsts“ noch sind. Die Nerven liegen noch immer blank, und die alten politischen Fronten sind noch lebendig. Fast alle Redner fanden Worte für die greifbare Bitterkeit der Angehörigen. Justizministerin Zypries sprach davon, dass die Opfer allzu lange aus der Perspektive der Täter wahrgenommen wurden: nicht als unverwechselbare Individuen, sondern als bloße Repräsentanten des „Systems“. Sie wie andere kritisierten die schwer erträgliche Weigerung der ehemaligen Untergrundkämpfer, an der Aufklärung ihrer Taten mitzuwirken – geschweige denn Zeichen und Gesten des Bedauerns zu äußern, die es den Familien der Getöteten leichter machen könnten, ihren Groll zu verarbeiten. Sie nannte es einen Skandal, dass ehemalige RAF-Mitglieder wie Rolf Clemens Wagner ihre Killeraktionen noch heute rechtfertigen. So weit konnten wohl alle im Saal den Rednern folgen.

Es blieb dem Bundestagspräsidenten vorbehalten, aus der Gedenkveranstaltung eine Tribüne für eine politische Generalabrechnung nicht nur mit der RAF, sondern mit der kompletten 68er-Bewegung und weiten Teilen der linksliberalen Öffentlichkeit zu machen. Von der APO bis Harald Schmidt wurden alle in einen Topf gerührt und der Fahrlässigkeit, wenn nicht gar der Mitverantwortung für die Exzesse der RAF geziehen. Als Norbert Lammert sprach, wehte mehr als nur ein Hauch von Kulturkampf durch das Deutsche Historische Museum. Es ging  um die Neubewertung der Umbruchjahre seit 1967. Zwei Tage zuvor hatte BILD-Chefredakteur Kai Diekmann seine buchförmige Verdammung der „Generation 68“ präsentiert. Wir können uns in den kommenden Monaten auf einiges gefasst machen: die alten Schlachten werden neu geschlagen.

Lammerts zentraler Punkt lautet, dass es sich bei der RAF nicht um ein isoliertes Randphänomen handelte, sondern um den radikalen Ausläufer, wenn nicht die logische Konsequenz der „außerparlamentarischen Opposition“ von einst. In der Tat verlief keine chinesische Mauer zwischen der RAF der frühen Jahre und der radikalen Linken, die sich Ende der 60er, Anfang der 70er neu formierte. Die Rechtfertigung politischer Gewalt und die Glorifizierung des „antiimperialistischen Befreiungskampfs“ waren keine Besonderheit der RAF. Sie unterschied sich von anderen Fraktionen der Linken durch die Konsequenz, mit der sie vom Wort zur Tat schritt, und durch ihren gesteigerten Voluntarismus, also den Glauben, eine revolutionäre Situation gewaltsam herbeiführen zu können. Mit anderen Worten: durch einen bis ins Pathologische gesteigerten Realitätsverlust. Dabei mischte sich Paranoia mit Allmachtsphantasien. Man redete sich und anderen ein, der Faschismus stehe wieder vor der Tür, und dagegen seien alle Mittel erlaubt. Die selbst gewählte Isolation des Untergrunds verstärkte den brutalen Rigorismus, mit der die RAF nicht nur „das Schweinesystem“, sondern den Feind in sich selbst bekämpfte. Die Ermordung der Repräsentanten von Staat und Wirtschaft und der wütende Kampf gegen das eigene bürgerliche Selbst waren zwei Seiten derselben Medaille. Um die Tötungshemmung außer Kraft zu setzen, brauchte es nicht nur politische Begründungen, sondern eine regelrechte Gehirnwäsche, die die RAF an sich selbst vollzog. Bei Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof mischten sich Hass auf das faschistoide Bürgertum und Selbsthass. Dazu gehörte die Verachtung der „bürgerlichen Demokratie“ und der „Scheißliberalen“. Aus dieser Perspektive erschien der Rechtsstaat nur als besonders raffinierte Form der Unterdrückung und das Parlament als bloße Fassade der Herrschaft des Kapitals. Auch das hat die RAF nicht erfunden. Die Verachtung der Demokratie ist Gemeingut der totalitären Bewegungen von links wie von rechts, vermischt mit Abenteuerertum und einem Kult der Gewalt. In verdünnter Form gab es das auch in anderen Ausläufern der radikalen Linken. Aber nur in der RAF verdichtete sich dieses Gemisch zu der mörderischen Gewalt, deren Nachbeben noch heute spürbar sind.

Lammert hat recht, wenn er auf die Grauzonen zwischen der RAF und der radikalen Linken dieser Jahre hinweist. Aber er überspitzt seine These bis zur Absurdität, wenn er in einem teleologischen Rückschluss die ganze „68er Bewegung“ zur Vorgeschichte der RAF erklärt. Während ein Teil der ergrauten 68er in milder Altersverklärung die Intoleranz, die Bürgerkriegsrhetorik, das lächerliche Klassenkampfgebaren und die Verklärung des „antiimperialistischen Befreiungskampfs“ beschönigt, die sich in den radikalen Ausläufern der APO breit machten, reduziert der Lammert die ganze Bewegung auf ihre regressive Seite. Er will oder kann ihre emanzipatorischen, libertären Seiten nicht sehen: den Drang nach Selbstbestimmung, den Ausbruch aus der stickigen Luft der Nachkriegszeit, die Auseinandersetzung mit der Nazi-Generation, den Kosmopolitismus dieser politischen Generation. Was für Hunderttausende ein großer Aufbruch war, ist für Lammert nur eine große Verirrung. Sein Unverständnis geht so weit, dass er der Protestbewegung von damals nachträglich jeden Grund zur Rebellion abspricht. Natürlich war die Bundesrepublik auch damals kein „Unrechtsstaat“, gegen den bewaffneter Widerstand notwendig und legitim gewesen wäre. Das gehört zur Selbstlegitimation der RAF. Aber sie war auch weit von jener liberalen Demokratie entfernt, die der Bundestagspräsident in seiner Rede reklamierte. Zwar war der Bruch mit dem Nationalsozialismus institutionell vollzogen, aber die Alltagskultur der Republik atmete noch den repressiven Muff, an dem sich das große Aufbegehren entzündete. Das galt für die Ordinarienuniversität wie für die verlogene Sexualmoral, die Diskriminierung von Homosexuellen, die weit verbreiteten rassistischen Vorurteile, die Zwanghaftigkeit der vorherrschenden Ordnungsvorstellungen wie für die Intoleranz gegenüber allen, die aus der Reihe tanzten. Und in zahlreichen Institutionen waren noch jene am Werk, die mehr oder weniger loyale Parteigänger der Nazis waren: in Politik und Verwaltung, in der Justiz, der Wirtschaft und in den Medien. Es genügt der Hinweis auf die Rolle, die hochrangige NS-Polizeioffiziere beim Aufbau des Bundeskriminalamts spielten. War es nicht legitim, sich darüber zu empören? Der Fehler lag darin, die Allgegenwart der ehemaligen Nazis als Beweis für den präfaschistischen Charakter der neuen deutschen Demokratie zu nehmen.

Die Gewalterfahrungen, die die protestierenden Studenten machten, trugen zur Radikalisierung der Bewegung bei. Nachdem Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin bei den Protesten gegen den persischen Schah von einem Polizisten erschossen wurde, gab es eine spontane Versammlung im SDS-Zentrum am Kurfürstendamm. Eine Teilnehmerin rief: „Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren.“ Die Rednerin war Gudrun Ensslin. Das war natürlich durchgeknallt. Aber wer die Prügelarien der Polizei, die Wasserwerfer, die Hetze der BILD-Zeitung und das Attentat auf Rudi Dutschke erlebte, wurde empfänglich für solche paranoid-aggressiven Töne. Brigitte Zypries traf einen wunden Punkt, als sie in Berlin kritisierte, dass das Verständnis für die vermeintlich hehren Motive der RAF bei vielen größer war als die Abscheu über ihre Mittel. Es ist heute kaum nachvollziehbar, auf wie viel Verständnis die RAF bis ins liberale Bürgertum stieß. Wie massiv umgekehrt das Gefühl der Bedrohung durch den Sicherheitsstaat und die Kampfpresse auch für durch und durch friedliebende Zeitgenossen war, erschließt sich bei der Lektüre von Heinrich Bölls „Katharina Blum“. Die Überreaktion der Staatsorgane auf den Terror der RAF nährte das ohnehin seit den Notstandsgesetzen vorhanden Misstrauen in die demokratische Verlässlichkeit der Institutionen. Wer diese Zusammenhänge ausblendet, kann nur verurteilen, aber nicht verstehen, was damals die linke und liberale Öffentlichkeit bewegte.

Vollends verbaut sich Lammert den Zugang zur politischen Dynamik jener Jahre, indem er die RAF als rein deutsches Phänomen verhandelt. Wer den internationalen Kontext ausblendet, in dem sich die außerparlamentarische Opposition entwickelte, versteht so gut wie gar nichts von dieser Zeit. Der amerikanische Bombenkrieg in Vietnam, die antikolonialen Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, der Militärputsch gegen Salvador Allende in Chile waren Katalysatoren für die Radikalisierung in den Metropolen. Zugleich ermöglichten sie den linken Gruppen hierzulande, sich als Teil einer weltweiten revolutionären Bewegung zu verstehen. Das war zwar eine Fiktion, aber sie beflügelte ganz ungemein. Auch die politische Landschaft in Europa war damals noch keineswegs befriedet. Der Prager Frühling wurde im August 1968 durch sowjetische Panzer niedergewalzt, und zu den Verbündeten des freien Westens gehörten so unappetitliche Regimes wie die Junta in Griechenland, Franco in Spanien und Salazar in Portugal. Der Faschismus in Europa war keine ferne Vergangenheit.

Die RAF allerdings war der zugespitzte Beweis, dass linker Antifaschismus selbst ins Totalitäre und Menschenverachtende abkippen kann. Das Erschrecken über diese Perversion hat viel zum Neubeginn einer demokratischen, gewaltfreien, reformatorischen Linken beigetragen. Es wäre gut, wenn auch konservative Vordenker wie Norbert Lammert die Schützengräben verließen.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 30.10.2007)

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.