In Schleswig-Holstein haben drei Dörfer zu den Nachbarn in Dänemark rübergeschaut und ein dort weitverbreitetes Konzept kopiert: Mit dem geplanten Zusammenschluss aus Solarthermie, Erdwärmespeicher, Großwärmepumpe und Biomassekessel will die Genossenschaft „Boben Op Nahwärme eG“ ausschließlich regional verfügbare, CO2-neutrale Energieträger nutzen. Und wird so zu einem Pilotprojekt, das auf einfache Übertragbarkeit auch für andere Gemeinden im ländlichen Raum setzt.
Die Straßen von Hürup sind gesäumt von rotweißen Baken und Baggern. Es wird gebuddelt. Läuft man durch das Dorf im Norden Schleswig-Holsteins, sieht man an vielen Häusern Schilder: „Ich bekomme Nahwärme.“ Die 2.400-Einwohner-Gemeinde südöstlich von Flensburg geht derzeit beherzte Schritte hin zu einem genossenschaftlich betriebenen Wärmenetz, das 2025 die Ortsteile Maasbüll und Hürup sowie die Gemeinde Husby mit ausschließlich erneuerbaren Energiequellen versorgen soll.
Bereits 2012 gründen hier engagierte Bürger*innen einen Klimaschutzverein: Carsharing-Modelle werden entwickelt, Stromwechselpartys gefeiert. Bald liegt auch das Thema Wärme auf dem Tisch. 2015 beschließt die Gemeinde, konkret zu werden. Sie nimmt sich ein Vorbild an der 150 Kilometer entfernten Kleinstadt Brædstrup in Dänemark: Die kombiniert für ihre Wärmeversorgung eine große Solarthermieanlage mit einem saisonalen Speicher, Großwärmepumpen, einem Blockheizkraftwerk und Elektrodenkesseln. In Dänemark ist es rechtlich möglich, kostengünstig eingekauften Strom in Wärme umzuwandeln. Daneben nimmt Hürup Kontakt auf zum dänischen Konsulat in Hamburg: Hier arbeiten gleich mehrere Menschen daran, das „dänische Wärmekonzept“ – hunderte Wohn- und Gewerbegebiete, ja ganze Städte werden dort bereits über großflächig aufgebaute Solarkollektoren versorgt – bekannt zu machen und so nebenher die dänische Industrie zu fördern.
Ein Militärgelände wird zum Energie-Hub
Emöke Kovač, die von 2012 bis 2022 für die Grüne Liste im Hüruper Gemeinderat saß und davor an der Flensburger Uni Energie- und Umweltpolitik unterrichtet hat, trägt die Idee von Anfang an mit. Sie erzählt: „Als 2015 klar war, dass die Sendestelle des Marinefunks, zentral gelegen zwischen den Ortsteilen Hürup und Maasbüll sowie dem Nachbardorf Husby, nicht weiter militärisch genutzt wird, wussten wir: Mit dieser Fläche können wir etwas anfangen.“ Denn wäre es nicht schlau, Anlagen für die Versorgung eines Nahwärmenetzes nicht dreimal, sondern nur einmal aufzubauen?
Die Gemeinde Hürup jedoch traut sich Leitungsbau und Betrieb eines „Drei-Dörfer-Wärmenetzes“ finanziell nicht zu. Einige Mitglieder des Klimaschutzvereins wollen sich die Chance auf klimaneutrale Wärme aber nicht entgehen lassen und gründen die „Boben Op Nahwärme eG“. Für Christoph Baumann, Jurist und einer der beiden ehrenamtlichen Vorstände von Boben Op, nur die „zweitbeste Lösung, denn eigentlich gehört das Netz in kommunale Hand“. Seit 2016 jedoch trifft sich eine Kerngruppe von etwa 15 Leuten, vom Schiffselektriker bis zum Wirtschaftsprüfer, einmal pro Monat und entwickelt Konzept und Umsetzung. „Dieses Projekt funktioniert, weil wir Enthusiasten sind“, sagt Baumann.
Sonne, Erde, Heckenschnitt: Sinnvoll kombinierte lokale Energiequellen
Boben Op ist Plattdeutsch und heißt „obenauf“ oder auch „eine Nasenlänge voraus“. Und diese Nase hat ihre Vorbilder im Norden gewittert: Das Brædstruper Konzept wird von der Genossenschaft einfach kopiert – es sei doch alles längst da, man müsse nicht, wie so oft in Deutschland, auf die Erfindung einer Raketentechnologie warten, meint Emöke Kovač mit Nachdruck. Wie die Dänen setzt auch Boben Op auf das Zusammenspiel mehrerer Erzeugungstechnologien: auf Solarthermie, Erdwärmespeicher, Großwärmepumpe und Hackschnitzelkessel.
Seit 2017 wird nun das Wärmenetz in Hürup und Maasbüll ausgebaut. Der Start passiert in einem Neugebiet, wo zunächst ein Pelletofen sechs Haushalte auf einer Trassenlänge von 160 Metern versorgt. 2019 kommen neben den nächsten 1.600 Metern Netz und weiteren 18 Anschlüssen eine neue Pellet-Anlage sowie mehrere gebrauchte, von der Gemeinde übernommene Gas-Blockheizkraftwerke hinzu, die mittlerweile allerdings nur noch als Reserve bereitgehalten werden. Die so produzierte Wärmemenge von 632.961 kWh/a verdoppelt sich bis zur Heizsaison 2023 in zwei weiteren Ausbauschritten gut: Mittlerweile werden 90 Anschlussnehmende auf einer Trassenlänge von 6.000 Metern von für 600.000 Euro neu angeschafften Hackschnitzelkesseln mit Wärme versorgt. Denn Hackschnitzel, so erläutert Kovač, gibt es hier mehr als genug: Windbrecher-Hecken zwischen den Feldern werden alle paar Jahre auf Stock gesetzt, also stark eingekürzt. Das dabei anfallende Knickholz kann in einem modernen Kessel mit kaum messbarem Feinstaubausstoß bestens zur Wärmegewinnung verwertet werden.
„Aber eigentlich“, so Emöke Kovač, „wollen wir den Anteil der aus Verbrennung von Biomasse erzeugter Wärme ja möglichst weit reduzieren“. Als die Bundeswehr ihre Küstenfunkstelle 2015 tatsächlich aufgibt, wird also die Idee „Wärme aus Solarthermie“ die klare Ziellinie der Genossenschaft. Sobald das ehemalige Militärgelände zur „Konversionsfläche“ deklariert ist, springt die Gemeinde Husby als Steigbügelhalter ein, streckt die von der Genossenschaft verhandelte Kaufsumme für 12 ha vor und verpachtet die Fläche an Boben Op. Dass die Genossenschaft im Spätsommer 2023 selbst Eigentümerin wird, ist beschlossene Sache. Ein von den Genoss*innen in Auftrag gegebenes geologisches Gutachten ergibt: Die Solarthermieanlage, die auf der Konversionsfläche errichtet werden soll, kann hier praktikabel ergänzt werden durch einen oberflächennahen Erdwärmespeicher. Lehmschichten im Boden isolieren eine nicht-wasserführende Erdschicht, die wiederum über Wärmesonden – mit wärmeleitender Flüssigkeit gefüllte Plastikrohre – im Sommer „aufgeladen“ und im Winter „entladen“ werden kann. Dieser natürliche Speicher mit seinen 100 Metern Durchmesser und 25 Metern Tiefe wird in der Lage sein, 3.000 MWh Wärme vorzuhalten.
Bei Entnahme wird diese Wärme über eine Großwärmepumpe auf die Netz-Vorlauftemperatur von 71-75°C nacherhitzt und kommt bei den Kund*innen mit geplant knapp 65 Grad zuhause an. Der Strom für die Pumpe soll hauptsächlich von der Photovoltaikanlage generiert werden, die bereits seit 2019 auf dem ehemaligen Militärareal steht. Wenn das Solarkollektorfeld 2025 installiert ist, wird das Hürup-Husbyer Wärmenetz mit seinem Gesamtwärmebedarf von 37.500 MWh pro Jahr im Zielszenario zu 60 Prozent mit Sonnenenergie gespeist. Den Restbedarf decken die Biomassekessel, die gleichzeitig in Spitzenlastzeiten die Versorgungssicherheit garantieren. Neben diesen sinnvoll kombinierten lokalen Energiequellen sind ein Tagesspeicher auf der Konversionsfläche mit mindestens 10.000 m3 und zwingend vorgeschriebene Pufferspeicher in den Häusern selbst – Brauchwasserspeicher mit ca. 150 l Volumen – ein weiterer Bestandteil des zukünftigen Drei-Dörfer-Netzes. So ist warmes Wasser auch dann da, wenn doch mal alle gleichzeitig duschen.
In kleinen Schritten zum Energieträgerwechsel für 1.500 Haushalte
Bei Boben Op ging es immer nur am Rande um Gebäudesanierung und deutlich wesentlicher um den Wechsel des Energieträgers. Alte Höfe mit schönen Fassaden wollen nicht so gern gedämmt, sondern zuerst von Öl und Gas befreit werden. Mit diesem Konzept gewinnt die Genossenschaft 2017 die schleswig-holsteinische „EnergieOlympiade“, die vorbildliche kommunale Energieprojekte auszeichnet. Mit dem Preisgeld werden die ersten Netzmeter gebaut, unterstützt von einem Darlehen der Gemeinde. Mittlerweile hat die Genossenschaft Kredite aufgenommen. Bis Ende 2023 sollen 8,5 Kilometer Trassennetz und Anschlüsse für 180 Haushalte in Hürup fertig sein. Emöke Kovač erläutert: „Für Leute aus Großstädten und Neubaugebieten klingt das wenig. Unsere Bebauungsdichte ist aber einfach nicht mit deren Bedingungen zu vergleichen. Auch die von früheren Förderprogrammen geforderte Wärmebedarfsdichte passt nicht zu unseren Strukturen mit eher locker verteilten Höfen und Einfamilienhäusern.“ Am Horizont aber stehen 225 Anschlussnehmer*innen nach Fertigstellung des letzten Bauabschnitts in 2024 – sowie das bereits existierende, gasbasierte kommunale Wärmenetz in Husby, das derzeit ebenfalls ausgebaut wird und ab 2025 von Boben Op mitversorgt werden soll.
Kann Boben Op diesen Zeitplan nicht halten, will der Betreiber in Husby einen eigenen neuen Biomassekessel bauen – was nicht zur Vision der Genoss*innen passt, weniger zu verbrennen und eine zentrale, gemeinsame, nicht gewinnorientierte Versorgungsstruktur zu etablieren. Boben Op braucht also jetzt schnell Geld, um den letzten großen Schritt tun zu können und die Konversionsfläche mit den Erzeugungsanlagen „zu möblieren“. 3,65 Millionen Euro hat der Netzausbau bis zum Sommer 2023 bereits gekostet. Für die Umsetzung des Gesamtkonzepts inklusive Solarthermie und den Haupttrassen zwischen den drei Dörfern kommen noch mal ein paar Millionen oben drauf. Mit der GLS-Gemeinschaftsbank eG hat man einen Kreditgeber an der Seite, der solche Projekte schätzt, aber eben auch weiß, wie aufwendig es ist, viele Einzelverträge mit den Abnehmer*innen einzutüten und den Netzausbau zu koordinieren. Von daher teilt die Bank das Projekt lieber in übersichtliche Phasen – was die Genossenschaft nur auf Sicht fahren lässt.
Christoph Baumann erzählt: „Wir sind überzeugt: Wir können perspektivisch alle 1.500 Haushalte in den drei Orten mit günstiger und nachhaltig erzeugter Wärme als Grundpfeiler der Daseinsvorsorge beliefern. Darüber hinaus wollen wir keine Gewinne erzielen. Wir hoffen also sehr, dass die GLS weiter begeistert von uns ist und uns zum Jahreswechsel 2024 die Finanzierung für die letzte Ausbauphase zusagt.“ Mit Verve werden fürs Erste weitere Abnehmer*innen und Genossenschaftsmitglieder geworben. Sehr überzeugend erläutert die Boben-Op-Website beispielsweise, warum Nahwärme gerade auf Kostenseite ein günstiges und verlässliches Modell ist: Die reinen Brennstoffkosten sehen bei einer Öl- oder Gasheizung oft geringer aus als beim Nahwärmepreis. Dabei werden aber die so genannten Vollkosten oft nicht mit einkalkuliert: Gas- und Ölheizungen haben meist Wärmeverluste von 25-30 Prozent, außerdem generieren sie Betriebs- und Wartungskosten, der Schornsteinfeger muss bezahlt werden und irgendwann geht die Heizung trotzdem kaputt. Hinzu kommen seit 2021 noch mehrere hundert Euro jährlich für die CO2-Steuer. All diese Kosten fallen für Nahwärme-Kund*innen nicht an: Verluste bei Heizungsanlage und Verteilungsleitungen sind im Arbeitspreis berücksichtigt, fixe Betriebskosten wie Wartung und Reparaturen im monatlichen Grundpreis enthalten. Im Keller steht nur noch eine Wärmeübergabestation – es kann also kaum noch etwas kaputt gehen.
Dranhängen an öffentliche Straßenbauarbeiten
Eine Möglichkeit, die Kosten zu senken, nutzt Boben Op aktuell sehr aktiv: Die Genoss*innen hängen sich mit an öffentliche Tiefbauarbeiten dran. So wie jetzt: In Hürup wird die Abwasserkanalisation modernisiert, demnächst ist die Fahrbahndecke einer Landesstraße dran. Die Genossenschaft tritt vorausschauend schon im Vorfeld solcher Arbeiten auf Land und Gemeinde zu, denn: „Wenn wir unsere Fernwärmerohre in schon geöffnete Straßen legen, sparen wir immense Kosten – das kann bis auf ein Achtel runtergehen“, so Kovač. Dass Boben Op seit zwei Jahren außerdem Mittel von Bund und Land bekommt – vor allem Zuschüsse nach dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und aus dem schleswig-holsteinischen Landesprogramm Wirtschaft – und für das Sanierungsmanagement aus dem KfW-Förderprogramm für Energetische Stadtsanierung ein Beratungsbüro vor Ort sowie Planungs- und Vertragsarbeiten bezahlen kann, hilft sehr. Das Büro mit seinen festen Öffnungszeiten, auch nach Feierabend, wurde seit Anfang 2022 für an die 300 Einzelberatungen in Anspruch genommen – zusätzlich zu den unzähligen Gesprächen, die Ehrenamtliche bei ihrer Tür-zu-Tür-Akquise führen.
Boben Op hat heute 230 Genoss*innen und in den Ausbaugebieten von Hürup eine Anschlussquote von etwa 50 Prozent, im Ortsteil Maasbüll schon 70 Prozent. In einem Neubaugebiet verkauft die Gemeinde nur an diejenigen Grundstücke, die einen Abnahmevertrag mit der eG schließen. Einfach sei es aber nicht immer, so Kovač: „Wir müssen die Menschen davon überzeugen, in eine noch nicht zu hundert Prozent garantierte Zukunft einzusteigen. Und das, obwohl sie eine – zumindest noch – funktionstüchtige Heizung haben.“ Für manche müsse diese Zukunft erst sichtbarer werden. Am offenen Straßengraben mit Blick auf die neuen Rohre in der Erde riefen manche Skeptiker*innen dann aber oft doch: „Halt, stopp, ich mache mit!“