Europa vor der Wahl: Fragen und Folgen für die Wirtschaft

Interview

Vom 6. bis 9. Juni können über 350 Millionen Europäerinnen und Europäer ein neues Parlament wählen. Fünf Jahre nach dem Startschuss zum Green Deal und inmitten vielfältiger Krisen steht die wirtschaftliche Stärke und Sicherheit Europas auf dem Spiel. Was kommt auf die deutsche und europäische Wirtschaft zu? Darüber sprechen wir mit Sandra Parthie, Leiterin des Brüsseler Büros beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und Roderick Kefferpütz, Leiter des EU-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel.

Hauptquartier der EU-Kommission in Brüssel
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Hauptquartier der EU-Kommission in Brüssel.

Phillip Käding: Vor fünf Jahren war die Beteiligung an der Europawahl historisch hoch. Warum sollte uns die Wahl dieses Jahr genauso – oder sogar mehr – interessieren?

Sandra Parthie: Seit 2019 hat sich vieles verändert. Damals gab es unter dem Stichwort Green Deal bereits den einen oder anderen konkreten Plan – und nach der Wahl eine Vorstellung davon, wie dieser mittelfristig umgesetzt werden kann. Dann ist die Realität passiert. Plötzlich war Pandemie, zwei Jahre später Krieg auf europäischem Boden mit einem Aggressor Russland, der bis dahin einer der wichtigsten Zulieferer von Energie war, besonders für Deutschland. In dieser Situation braucht es umso mehr ein Parlament und eine Europäische Kommission, die sich für eine gemeinsame Lösung der Herausforderungen einsetzen. Was es nicht braucht, ist ein Nationalismus, der auf die Abkehr von Zusammenarbeit und das Davonlaufen vor Problemen setzt.

Roderick Kefferpütz: Wir stehen vor enormen Herausforderungen. Die nächsten fünf Jahre müssen wichtige Weichenstellungen für die europäische Verteidigungsfähigkeit und die grüne und digitale Transformation gesetzt werden. Dafür brauchen wir eine starke „Verantwortungskoalition“ der politischen Mitte im Europäischen Parlament. Die gute Nachricht ist: Das Interesse an der Europawahl ist da, und die Mehrheit ist überzeugt, dass wir Antworten aus Europa und aus der demokratischen Mitte brauchen.

Die extreme Rechte wird im Juni wohl einen großen Zuwachs im EU-Parlament erfahren. Nach langer Stille positioniert sich mittlerweile auch die deutsche Wirtschaft klar gegen diese Gefahr. Warum würde eine rechtspopulistische Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene auch deutschen Unternehmen schaden?

Roderick Kefferpütz: Das Programm rechtsextremer Parteien am Beispiel der AfD ist wirtschaftsfeindlich und eine Bedrohung für den Industriestandort Deutschland. Nehmen wir nur die zentrale Forderung, aus dem Euro auszutreten. Die Folgen wären neue Währungsschwankungen, ein Verlust der deutschen Wettbewerbsfähigkeit und Exporteinbrüche. Wirtschaftsinstitute haben berechnet, dass solch ein Euro-Austritt uns 2,2 Millionen Arbeitsplätze kosten und einen Verlust bei der Wirtschaftsleistung von bis zu 500 Milliarden Euro verursachen würde. Zudem würde die Ablehnung des digitalen Euros auch dafür sorgen, dass wir im Wettbewerb der digitalen Währungen hinter den Chinesen und Amerikanern zurückfallen. Das kann sich eine Wirtschaftsmacht wie Deutschland nicht leisten.

Sandra Parthie: Wir haben im Institut letztes Jahr zudem eine Umfrage unter 119 Hauptgeschäftsführern der Arbeitgeberverbände in Deutschland gemacht. Die Hälfte sieht bereits heute akute Schwierigkeiten in AfD-Hochburgen, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Diese brauchen wir aber nicht nur für unsere Wirtschaft, sondern auch für die Leistungsfähigkeit unserer Sozialsysteme. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien bedienen sich oft einer sozialen Rhetorik, doch ihre Programmatik wäre für die meisten Menschen und so gut wie alle Unternehmen schädlich. Von ihren steuerpolitischen Forderungen würden übrigens nur Menschen mit sehr hohem Einkommen profitieren.

Was sind dem gegenüber die eigentlich großen Fragen, denen sich Europa stellen muss, um wieder wettbewerbs- und handlungsfähiger zu werden?

Sandra Parthie: Wir sehen, dass die Investitionen in Europa im Vergleich mit anderen Weltregionen abnehmen. Das ist kein besonders gutes Zeichen für die EU als Wirtschaftsstandort, das heißt, da müssen wir aktiv werden. Wir müssen aufpassen, nicht ins Hintertreffen zu geraten, wenn es um Künstliche Intelligenz oder andere Zukunftstechnologien geht. Wir als Europa sollten auch künftig in der Lage sein, Standards zu entwickeln und zu setzen. Als Kontinent, der nicht mit denselben Bodenschätzen ausgerüstet ist wie andere Regionen, müssen wir außerdem schauen, wie wir die Ressourcen, die wir für die Produktion und die Energieversorgung brauchen, sichern. Die protektionistischen Tendenzen in den USA und China sind stark, und das ist für uns in Europa und insbesondere Deutschland höchst problematisch, da wir nun mal eine exportorientierte und von Rohstoffzulieferungen abhängige Wirtschaft sind.

Was bedeutet dieser erhöhte Druck für den Green Deal, das Vorzeigeprojekt der letzten Kommission und den zentralen Plan, Europa zum klimaneutralen Kontinent zu machen?

Roderick Kefferpütz: Das ist eine heiße Debatte, die gerade in der EU geführt wird: Wie geht es weiter mit dem Green Deal? Wir haben einen enormen Investitionsbedarf für die grüne und digitale Transformation. Mario Draghi sagt, wir benötigen knapp 500 Milliarden Euro im Jahr dafür. Aber woher kommt das Wirtschaftswachstum, um diese Transformation zu wuppen? Einige sind der Meinung, es wäre jetzt an der Zeit, den Green Deal ins Eisfach zu legen und stattdessen einen „Industrial Deal“ zu fördern. Das wäre ein Fehler. Wir dürfen nicht in den alten – falschen – Widerspruch, „der Green Deal hat mit Industrie nichts zu tun“ zurückkehren. Sonst werden wir, gerade gegenüber den Amerikanern und Chinesen, ins Hintertreffen geraten. Die USA haben das historisch größte Investitionsprogramm für die grüne Transformation verabschiedet und die Chinesen drohen den europäischen Markt mit billigen Green-Tech Produkten zu überschwemmen. Wir müssen dagegenhalten und die Industrie durch die grüne und digitale Transformation wettbewerbsfähiger machen. Dafür muss der Green Deal aber stärker industriepolitisch flankiert werden. Und dazu gibt es eine Reihe von guten Vorschlägen.

Bei Wettbewerbsfähigkeit ist das Schlagwort Bürokratieabbau nicht weit.

Sandra Parthie: Die Notwendigkeit, unsere Art und Weise zu konsumieren und zu produzieren viel nachhaltiger zu gestalten, ist unumstritten, zumindest bei europäischen Wirtschaftsakteuren. Das Problem ist die Umsetzung. Diese basierte auch ein Stück weit auf dem Versprechen günstiger Energie. Da sich diese Lage in den letzten zwei Jahren verändert hat und die Transformation bei den Unternehmen mittlerweile vor allem in Form von mehr Bürokratie und mehr Berichterstattung ankommt, müssen wir uns umorientieren. Denn mit mehr Berichtspflichten habe ich noch kein Stück grüner produziert oder nachhaltiger konsumiert. Dazu kommt: Wir wollen aufgrund der geopolitischen Lage diversifizieren und in Länder gehen, die nicht zu unseren bisherigen Partnern gehören - auf der anderen Seite wird den Unternehmen aber der Zugang in einen Großteil dieser Länder erschwert, da wir mit hohen Standards im Gepäck kommen. Wir dürfen nicht annehmen, dass wir die einzigen Akteure in diesem Feld sind. Wenn Zuliefererstaaten immer umfassendere und höhere europäische Anforderungen nicht einhalten können, sehen sie sich eben nach anderen Partnern um.

Roderick Kefferpütz: Klar, Bürokratie wollen wir alle abbauen. Und es gibt viele Bereiche, in denen wir mehr tun müssen, beispielsweise bei Genehmigungen für Windturbinen. Dort kann es manchmal bis zu 6 Jahre dauern, bis man eine bekommt und endlich anfangen kann zu bauen. Aber europäische Berichtspflichten gibt es ja nicht aus Jux und Tollerei, sondern sind Teil des wirtschaftlichen, sozialen und umweltpolitischen Risikomanagements. Und wir sind damit ja auch nicht alleine. Ich denke an die USA, wo zuletzt 13.000 Autos von Volkswagen feststeckten und keinen Zugang zum amerikanischen Markt bekamen. Die Autos verstießen nämlich gegen amerikanisches Recht, da sie teilweise mit in Xinjiang gefertigten Teilen hergestellt wurden und dort schwere Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Unterdrückung der Uiguren stattfinden.

Klar ist: Bürokratieabbau alleine reicht nicht, es muss investiert werden. Die EU hat im Wesentlichen zwei Wege, auf den Investitionsbedarf zu reagieren: Privates Kapital mobilisieren oder eigene Mittel durch europäische Verschuldung einzusetzen – das gibt es erstmals seit 2020 im Rahmen gemeinsamer Verschuldung für das Programm Next Generation EU. Wie geht es mit den europäischen Investitionen weiter?

Roderick Kefferpütz: Das ist ein sehr umstrittenes Thema, bei dem wir dringend Fortschritte machen müssen. Denn der Investitionsbedarf ist enorm und die Finanzierungslage wird zunehmend schwieriger. Der Next Generation EU Fonds läuft 2026 aus und die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die während der Pandemie und des Ukraine-Krieges ausgesetzt wurden, treten wieder in Kraft. Ein wichtiger Schritt nach vorne wäre die Vollendung der Kapitalmarktunion. In der EU schlummern 33 Billionen Euro in private Ersparnisse. Wenn man hier nur einen Bruchteil für den Kapitalmarkt mobilisieren könnte, wäre schon viel gewonnen. Aber es müssen auch andere Antworten gefunden werden. Und tatsächlich finden sich in fast allen europäischen Wahlprogrammen der deutschen Parteien Investitionspläne. Grüne Investitionen, Investitionen für Soziales, für Verteidigung. Ich halte es daher nicht für unrealistisch, dass wir in der nächsten europäischen Legislaturperiode Fortschritte bei gemeinsamen Investitionen schaffen.

Sandra Parthie: Eigenmittel der EU sind notorisch gering. Die Mitgliedsländer haben wenig Interesse daran, der EU mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Wenn sich die EU nun dieses Geld an den Finanzmärkten besorgt, muss sich gut überlegt werden, ob man dann, wie für die aktuelle EU-Schuldenlast, jedes Jahr 10 Milliarden Euro für Zinsen abführen möchte und wer diese bezahlt. Es hängt vieles an der Bereitschaft, mehr zu tun.

Seid ihr zuversichtlich, was diese Bereitschaft angeht?

Sandra Parthie: Die letzte Europa-Studie der Heinrich-Böll-Stiftung zeigt ja, dass es Unterstützung gibt – quer durch die EU – für europäische Integration und auch für gemeinsame europäische Investitionsprojekte. Und wir müssen uns ins Bewusstsein rufen, wie stark der Binnenmarkt unseren Wohlstand steigert, auch wenn wir es nicht jeden Tag in unserem Portemonnaie sehen. Und wir sind ja dabei, den Standort Europa besser aufzustellen. In einer Welt mit immer mehr Wettbewerb müssen wir zusammenstehen, denn alleine wird's halt nix.

Roderick Kefferpütz: Dem kann ich mich nur anschließen. Es ist auch eine Chance für die Europäische Union, dass sie an Herausforderungen wachsen und zusammenwachsen kann. Wer hätte vor einigen Jahren das Wiederaufbauprogramm in der Corona-Pandemie mit gemeinsamen Schulden für möglich gehalten, wer hätte gedacht, dass die EU die europäische Friedensfazilität nutzt, um gemeinsam Waffen an die Ukraine zu schicken. Krisenzeiten bieten Möglichkeiten für politischen Fortschritt.


Das Interview führte Phillip Käding, Referent Wirtschaft und Finanzen.