Deutschland als „guter Europäer“ beim Eurovision Song Contest

Analyse

Die Europäisierung der deutschen Identität zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Nachkriegsgeschichte und zeigt sich auch in den Auftritten beim Eurovision Song Contest: Deutschland gibt sich harmlos und weltoffen.

Lena Meyer-Landrut steht auf einer blau ausgeleuchteten Bühne und hält ein Mikrofon in der Hand. Dahinter, weniger hell beleuchtet, drei Sängerinnen. Alle vier tragen schwarze Kleider.

Der ESC bietet einen facettenreichen Blick auf nationale Identitäten in Europa durch das Prisma der Pop-Musik und der Fernsehunterhaltung. Für Länder wie Deutschland mit seiner von Aggression, Besatzung und Krieg gezeichneten Geschichte bietet der ESC ein starkes symbolisches Vehikel und unzählige Möglichkeiten zur Wiedergutmachung. Über das Lied als Medium können Länder zum Beispiel negativen Wahrnehmungen und Stereotypen bei ihren europäischen Nachbarn entgegenwirken und den Wettbewerb zur Pflege ihres öffentlichen Images und ihrer Marke nutzen. Ein gutes Beispiel dafür ist, wie sich Deutschland nach der Befreiung vom Nationalsozialismus auf der ESC-Bühne neu erfunden hat.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich Deutschland zu einer reformierten, friedlichen Nation entwickelt, und auch zu einem verlässlichen Nachbarn, guten Bürger und vor allem einem „guten Europäer“. Die Europäisierung der deutschen Identität zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Nachkriegsgeschichte. Der ins Exil gegangene Schriftsteller und die nationale Ikone Thomas Mann brachte im Jahr 1953 Deutschlands Weg zur Bewältigung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit durch europäische Integration prägnant auf den Punkt, als er Studierende in Hamburg aufforderte, „nicht nach einem deutschen Europa, sondern nach einem europäischen Deutschland“ zu streben. Die Vision eines europäischen Deutschlands ist längst Konsens der politischen Eliten geworden und zeigt sich in der internationalen Politik, der Befürwortung der europäischen Integration und in der deutschen Kulturdiplomatie. Anhand Deutschlands Rolle beim ESC lässt sich das Wechselspiel zwischen nationaler und europäischer Identitätsbildung besonders gut beleuchten.

Bis zur Wiedervereinigung nahm ‚Westdeutschland‘ am Eurovision Song Contest teil, danach kamen auch die fünf ostdeutschen Bundesländer hinzu. Deutschlands Beteiligung am Song Contest ist Teil seines breiteren Engagements für die westeuropäische Integration. Nach dem Krieg setzten sich aufeinanderfolgende westdeutsche Regierungen für die europäische Integration im Sinne der „Vereinigten Staaten von Europa“ ein. Laut einer politischen Denkschule lässt sich die politische Kultur einer Nation an der Stärke ihrer Institutionen messen. Somit waren die politischen und wirtschaftlichen Institutionen Deutschlands in der Nachkriegszeit die Grundlage seines Wohlstands. Die politischen Institutionen Westdeutschlands gelten allgemein als stabil und fest in europäische und internationale Bündnisse wie die EU und die NATO verankert. Deutschland war zum Beispiel in den vierzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg immer gerne bereit, Souveränität zu opfern und durch seine Europäisierung für Verbrechen der Vergangenheit zu sühnen. Den Deutschen wird deshalb oft eine „postnationale Identität“ zugeschrieben. Die Deutschen sind stolz auf ihre Verfassung und ihre stabile Währung, was Jürgen Habermas einmal als „D-Mark-Nationalismus“ bezeichnete. 

Wie Risse und Engelmann-Martin argumentieren, bedeutet „ein ‚guter Deutscher‘ zu sein heutzutage, ein ‚guter Europäer‘ zu sein und die europäische Integration von ganzem Herzen zu unterstützen.“1

Dieses Credo kommt beim ESC in mehrfacher Hinsicht zum Tragen, vor allem im Auftreten Deutschlands als zuverlässiges und berechenbares Teilnehmerland.

Deutschland präsentiert sich beim ESC möglichst weltoffen

Deutschland nahm von Beginn an am ESC teil und versäumte den Wettbewerb nur einziges Mal, nämlich 1996, als es sich nicht qualifizierte. Es war eines der sechs Teilnehmerländer des ersten ESC, der 1956 in Lugano in der Schweiz stattfand. Auf den ersten Blick haben die Darbietungen, die Deutschland seither ins Rennen geschickt hat, nichts Besonderes oder Außergewöhnliches an sich. Bei näherer Betrachtung sehen wir jedoch deutlich, dass die deutschen Beiträge niemals besonders ‚deutsch‘ wirkten, weder in den Fünfzigern des Zwanzigsten Jahrhunderts noch in den Zwanzigern dieses Jahrhunderts. Im Gegenteil, sie zeichnen sich sogar durch ein deutliches ‚Nicht-Deutschsein‘ aus. Wahrscheinlich mehr als jede andere Nation entsendet Deutschland Lieder und Künstler*innen ohne offenkundige nationale und regionale Symbole, Codes oder Bedeutungsträger. 

Auffallend an den deutschen Beiträgen ist das kosmopolitische Flair.

Deutsche Lieder zeichnen sich häufig durch bestimmte Themen aus: Frieden und Reue, beides im Sinne deutscher Vergangenheitsbewältigung, sowie das Bild eines europäisierten Deutschlands. Seit der Einführung der freien Sprachwahl im Jahr 1999 werden die deutschen Beiträge fast immer auf Englisch gesungen. Seit 2008 gab es nur noch englischsprachige Beiträge aus Deutschland. Dieses Nicht-Deutschsein zeigt sich aber nicht nur in der Sprachwahl, sondern auch in der Wahl der Sänger*innen, des Musikstils und der Kostüme. 

Auffallend an den deutschen Beiträgen ist das kosmopolitische Flair der ausgewählten Vertreter*innen des Landes. Es entsenden zwar viele Länder mitunter Sänger*innen, die gar nicht aus dem betreffenden Land stammen, doch Deutschland schickt besonders oft Sänger*innen aus dem Ausland oder mit nicht sehr ‚deutsch‘ klingenden Namen ins Rennen. Der ESC bietet sich als gutes Forum an, um Weltoffenheit zu zelebrieren, obwohl er im Wesentlichen ein nationaler Wettbewerb ist. Historisch gesehen ist das kosmopolitische Flair der deutschen Beiträge ein Spiegelbild der allgemeinen Amerikanisierung der deutschen Popmusik. Nach dem Krieg wurden in Westdeutschland amerikanische Musikstile wie Jazz, Swing und Boogie-Woogie mit Begeisterung aufgenommen. Besonders Jazz galt als mäßigende Kraft, die von progressiven Deutschen im Sinne einer „Liberalisierung der deutschen Gesellschaft“ begrüßt wurde, wie Andrew W. Hurley feststellte.2  Durch ihre Offenheit gegenüber Musikformen, die die Nazis einst als „N****-Juden-Jazz“  verunglimpften,3 konnten die Deutschen der Welt beweisen, dass sie eine moderne, transparente Demokratie geworden waren.4

In diesem Geiste schickte Deutschland 1956 den Schlagersänger Freddy Quinn mit dem Rock’n’Roll-Song „So geht das jede Nacht“ und Walter Andreas Schwarz mit der langsamen Ballade „Im Wartesaal zum großen Glück“ zum ESC. Der Österreicher Freddy Quinn ist Sohn eines irischen Vaters, hat einige Jahre seiner Jugend in Virginia verbracht und spricht fließend Englisch und Deutsch. Er trat vor amerikanischen GIs und im amerikanischen Radio in Deutschland auf, bevor er Mitte der Fünfziger von einer deutschen Plattenfirma entdeckt wurde. In den sechziger Jahren entsandte Deutschland drei Künstlerinnen, die keine gebürtigen Deutschen waren: 1964 die in Bulgarien geborene Nora Nova, 1968 die Norwegerin Wencke Myhre und 1969 die schwedische Sängerin Siw Malmkvist. In den siebziger Jahren entsandte Deutschland 1973 die in Dänemark geborene Gitte (Gitte Haenning) und 1976 die aus verschiedenen Ländern (unter anderem aus England) stammenden Les Humphreys Singers. 1977 trat für Deutschland das Münchner Sängertrio Silver Convention auf, dessen Mitglieder aus Deutschland, Österreich und den USA stammten. Dieses Muster setzte sich fort, 1978 mit der deutsch-britischen Sängerin Ireen Sheer und 1979 mit der Band Dschinghis Khan, die mehrere nicht-deutsche Mitglieder hatte.

In den achtziger Jahren setzte sich der Trend mit der litauischen Sängerin Lena Valaitis (1981) und dem italienischstämmigen Nino de Angelo (1989) fort. Im Jahr 2006 schickte Deutschland sogar eine australische Sängerin ins Rennen, Jane Comerford mit ihrer deutschen Band Texas Lightning, und 2014 die ukrainische Sängerin Elaiza. Im Jahr 2022 schickte Deutschland Malik Harris, den in Deutschland geborenen Sohn des Schwarzen amerikanischen Fernsehstars und Musikers Ricky Harris.

Dass Deutschland nicht-deutsche Interpreten zum ESC schickt, ist auch eine Folge der allgemeinen internationalen Orientierung der westdeutschen Popmusikindustrie. Die Auswahl der Vertreter*innen für den ESC war nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung, Staatsangehörige zu meiden oder Ausländer*innen den Vorzug zu geben, sondern schlichtweg das Ergebnis des sich wandelnden deutschen Geschmacks in der Pop-Musik und der Nachkriegsmusikindustrie im Allgemeinen. Der deutsche Musikmarkt der Nachkriegszeit wurde stark von internationalen Stars beherrscht, wie Dalida (eine französisch-italienische Sängerin, die deutsche Versionen französischer Chansons aufnahm), Vico Torriani (ein Schweizer Schlagersänger), Gus Backus (ein amerikanisch-deutscher Schlagersänger), Roberto Blanco (ein gebürtiger Tunesier mit afro-kubanischem Hintergrund) oder Roy Black (ein deutscher Schlagersänger mit amerikanisch klingendem Namen, der als der deutsche Roy Orbison galt). Auch internationale Stars wie die Amerikanerin Connie Francis und die Griechin Nana Mouskouri nahmen ihre Hits in deutscher Sprache auf.

In den fünfziger und sechziger Jahren dominierte in der deutschen Popmusik eine deutsche Ausprägung des Pop-Songs, der Schlager, ähnlich wie das Chanson in Frankreich und die Canzoni in Italien. Der Schlager war in der Tat ein durchlässiges, flexibles Genre kommerzieller Musik, das internationale Einflüsse aufnahm und adaptierte. Die deutsche Schlagermusik wirkte kosmopolitisch und war stilistisch ein Hybrid. Deutsche Schlager mit ausländischem Akzent zu singen, war nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern beliebt. Außerdem war er ein perfektes Medium, um Musikrichtungen über den Atlantik zu transportieren. Von 1953 bis Mitte der Sechziger standen deutschsprachige Lieder in den deutschen Charts ganz oben, Freddy Quinn war der beliebteste Sänger. 

1959 schickte Deutschland die äußerst erfolgreichen Zwillinge Alice und Ellen Kessler zum ESC. Die Kessler-Zwillinge stammen aus Deutschland, orientierten sich aber am amerikanischen Swing. Ihr auf Deutsch vorgetragenes Lied „Heute Abend wollen wir tanzen geh’n“ beginnt ganz frech mit „Hello boy“, gesungen mit einem Hauch eines amerikanischen Akzents. 1962 ging der Teenager-Star Conny Froboess mit dem Popsong „Zwei kleine Italiener“ über italienische Gastarbeiter an den Start. 

Deutsche ESC-Beiträge spiegelten den Zeitgeist der internationalen Popmusik

In den ersten Jahren des Wettbewerbs kamen in den deutschen Beiträgen verschiedene musikalische Stilrichtungen zum Zuge. In den Jahren 1957 und 1960 hatten die ausgewählten Lieder einen ausgeprägten kulturübergreifenden Charakter und mischten Einwürfe auf Englisch, Französisch und Italienisch in die deutschen Song-Texte. Die ESC-Songs knüpften auch an die ältere Schlager-Kultur der Kriegszeit in der Tradition der populären schwedischen Sängerin und Schauspielerin Zarah Leander und ihres internationalen Hits „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ von 1942 an. Neben sprachlichen Anklängen an Kriegszeit-Schlager orientierten sich einige der frühen deutschen Beiträge, wie Lale Andersens „Einmal sehen wir uns wieder“ aus dem Jahr 1961, auch an der Tradition der „seriöseren“ und musikalisch komplexeren deutschen Unterhaltungsmusik aus Theater und Musical der dreißiger Jahre an, wie etwa Brecht/Weills „Dreigroschenoper“.

Die deutschen ESC-Beiträge spiegelten in den sechziger Jahren den Zeitgeist der internationalen Popmusik wider, wobei einige Stücke einen Hauch von Brit-Pop hatten, wie Inge Brücks „Anouschka“ aus dem Jahr 1967. In den 70er und 80er Jahren wechselten sich Schlager mit Liedern ab, die mit Elementen von Disco, Folkrock, kalifornischem Rock und sogar Rap internationalen Trends folgten. In den Jahren 1970 und 1971 sang Katja Ebstein beispielsweise hybride zeitgenössische Lieder, die Elemente von Jazz, Soul und Blues sowie Soft- und Folk-Rock vermischten.

Als sich der Schlager als eigenständige Popmusikform etablierte, wurde er allmählich immer stärker mit Deutschland assoziiert und rief unweigerlich einen gewissen deutschen Stolz hervor. Um der Dominanz des britischen Pop und der amerikanischen Musik entgegenzuwirken, startete das ZDF die Sendung „Hitparade“ mit Dieter Thomas Heck. Doch obwohl sich der Schlager als bekannte deutsche Variante des Popsongs etablierte, kamen in den ESC-Beiträgen nie traditionelle (süd-)deutsche Symbole wie Alpen, Bierzelte, Lederhosen, Dirndl oder Jodeln vor. Ebenso wenig wurde in einem der vielen regionalen Dialekte gesungen. Dies ist umso überraschender, als der ESC mittlerweile von nationalen Stereotypen lebt. 

Ohne den Songwriter und Produzenten Ralph Siegel sind die deutschen ESC-Beiträge der siebziger und achtziger Jahre kaum denkbar. Siegel trug entscheidend zu Deutschlands ESC-Erfolgen bei, weil er die besondere Herausforderung Deutschlands verstand, die nationale Botschaft eines Liedes auf die internationale Ebene zu heben, und dabei Codes nutzte, die den Rest Europas ansprachen.  

Das Erfolgsrezept Deutschlands beim ESC ist Weiblichkeit

Dass Deutschland so umsichtig vermieden hat, sein Deutschsein auszudrücken, war zwar kein Erfolgsrezept per se, hat aber in entscheidenden Momenten starke Resonanz im übrigen Europa gefunden. Insbesondere 1982 und 2010 trug dies zu einem Klima bei, das einen deutschen Sieg begünstigte. Mit diesen beiden Siegerbeiträgen vermittelte Deutschland das Bild einer friedlichen, reformierten und reuigen Macht. Beides spiegelt wohl die Identität Deutschlands als demokratisches, europäisiertes Land wider. 

Statistisch gesehen hatte Deutschland in den ersten drei Jahrzehnten des ESC viel größere Erfolgschancen, wenn es eine Frau als Alleindarbieterin entsandte. 1982 entschied sich Siegel für Nicole und ein Thema, das nicht nur außerordentlich aktuell war, sondern auch ganz Europa in große Sorge versetzte: die Gefahr eines Krieges. Vor dem Hintergrund des atomaren Wettrüstens im Kalten Krieg fand Siegels schlichter Folk-Song mit dem Titel „Ein bißchen Frieden“ sofort Anklang. Sechs Monate nach Friedensdemonstrationen in ganz Westeuropa gegen den NATO-Doppelbeschluss hätte Nicoles Lied kaum zu einem günstigeren Zeitpunkt kommen können. Es war kein wütendes Plädoyer für den Abzug der NATO-Truppen von deutschem Boden, kein nationalistischer Schrei nach Souveränität oder gar ein patriotischer Aufruf zur deutschen Wiedervereinigung; Nicole war nicht einmal Friedensaktivistin, sondern ein ganz normales junges Mädchen mit ganz normalen Hoffnungen und Sehnsüchten. Eine mädchenhafte Sängerin vertrat eine ehemals aggressive Weltmacht und zeichnete so ein weicheres Bild Deutschlands. Im Auftreten und Ton von Nicoles Darbietung erschien Deutschland als gezähmte und gezüchtigte besiegte Macht; ein Land, das einfach darum flehte, nicht in einem neuen Krieg geopfert zu werden. 

Deutschland war 2010 erneut erfolgreich, interessanterweise kurz nach seiner Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft. Die von Stefan Raab ausgewählte Interpretin und das Lied fingen eine Stimmung von „Party-otismus“ ein, eine verspielte Art von Nationalstolz, wie er sich auch während der Weltmeisterschaft manifestiert hatte. Die Wahl der 18-jährigen Lena Meyer-Landrut, die noch nicht einmal die Schule abgeschlossen hatte, erwies sich als Geniestreich. Lena war erfrischend unprätentiös und natürlich, und Raabs Song „Satellite“ über verliebte Teenager ein Ohrwurm. Lenas Englisch klang nach Cockney, manchmal aber auch etwas neuseeländisch oder australisch. Ihr etwas ungelenkes Tanzen hob sie von den eher durchproduzierten Darbietungen ab.

Deutschland scheint immer dann am erfolgreichsten zu sein, wenn es eine harmlose, lebenslustige und weibliche Form nationaler Identität verkörpert.

Was ebenfalls zum Sieg 2010 beitrug, war die Rolle Deutschlands in der globalen Finanzkrise 2008 in der Eurozone. Die Entscheidung des Deutschen Bundestages, die angeschlagenen Länder der Eurozone zu retten, war den Menschen noch frisch im Gedächtnis, und sowohl die abstimmende Öffentlichkeit als auch die Jurys waren Deutschland gegenüber positiv eingestellt. Besonders gut schnitt Deutschland bei den Ländern ab, die am stärksten von der Finanzkrise betroffen waren. Die Selbstdarstellung Deutschlands war 2010, wie schon 1982, geprägt von dem Anspruch des Landes, ein guter Europäer zu sein, sowie von seiner Selbstwahrnehmung als ein europäisiertes Land. Raabs Idee, bei Lenas Auftritt Glanz und Glamour zurückzunehmen und, wie üblich, Symbole des „Deutschseins“ zu vermeiden, zahlte sich aus und fing die aufkommende Stimmung einer Ära der Sparsamkeit gut ein. 

Leider war die positive Einstellung zu Deutschland nicht von Dauer. In den Jahren 2015, 2016 und 2017, als es auf Platz 27, 26 bzw. 25 landete, galt Deutschland nicht mehr als „guter Europäer“, sondern eher als der gestrenge Zuchtmeister Europas. Das Blatt wendete sich 2018, als Michael Schulte mit seinem Song „You let me walk alone“ den vierten Platz belegte. Doch in den 2020er Jahren dümpelte Deutschland wieder ganz unten auf der Punktetafel. Deutschland entsendet weiterhin englischsprachige Lieder, trotz eines jüngsten Trends zur Rückkehr zu den Landessprachen beim ESC. Es folgt seinem altbewährten Rezept moderner, westlich klingender, meist kommerzieller Musik, die seine nationale Identität nicht in den Vordergrund stellt.

Kultur ist eine Möglichkeit, Vergangenheit zu sühnen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deutschland – ein Land mit einer Geschichte von Imperialismus, Besatzung und Gewalt – über die Kultur eine Möglichkeit geboten bekommt, seine nationalsozialistische Vergangenheit zu sühnen. Über das Medium des Liedes kann das Land ein reformiertes Bild als verlässlicher demokratischer Nachbar vermitteln. In der Geschichte des ESC hat Deutschland stets seine europäische Identität betont und sein Deutschsein heruntergespielt. Von dieser Strategie ist es bis heute nicht abgewichen. Die erfolgreichsten deutschen Beiträge verdanken sich dem Selbstverständnis des Landes als westlich, friedliebend und verantwortungsvoller Weltbürger.

Außerdem scheint Deutschland immer dann am erfolgreichsten zu sein, wenn es eine harmlose, lebenslustige und weibliche Form nationaler Identität verkörpert. Doch insgesamt ist der Erfolg Deutschlands beim ESC eher durchwachsen. Anderen großen Ländern wie dem Vereinigten Königreich und Frankreich ergeht es ähnlich. Wir sollten nicht vergessen, dass der ESC auch als unangenehmes Barometer dienen kann, das die Ambivalenz oder gar Frustration der Europäer*innen gegenüber Deutschland in zentralen Bereichen der europäischen Kultur und Politik aufzeigt. Es ist also damit zu rechnen, dass die Resonanz auf Deutschlands ESC-Auftritte auch weiterhin schwanken wird, da sich die europäischen Prioritäten stetig ändern und neue Krisen und Herausforderungen aufkommen, wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine.  


Prof. Dr. Alison Lewis unterrichtet Germanistik (German Studies) an der University of Melbourne. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die deutsche Nachkriegskultur und -gesellschaft.

Übersetzt aus dem Englischen von Kerstin Trimble.

  • 1Thomas Risse und Daniela Engelmann-Martin, „Identity Politics and Integration: The Case of Germany.“ In The Idea of Europe: From Antiquity to the European Union. Ausgabe 13, hrsg. von Anthony Pagden (Washington, DC: Wilson Woodrow Centre, 2002), 287.
  • 2Andrew Wright Hurley, The Return of Jazz: Joachim-Ernst Berendt and West German Cultural Change (New York and Oxford: Berghahn Books, 2009), 20.
  • 3Hurley, 19
  • 4Hurley, 21