Der ESC war zwar nicht als Instrument der europäischen Integration gedacht, ist aber zu einem Symbol dafür geworden - auch wenn das Verhältnis zwischen nationaler und europäischer Identität widerspruchsvoll ist.
Ich war wohl naiv, um ein französisches Lehnwort zu verwenden. Im Februar setzte ich bei der Vorauswahl des diesjährigen deutschen Beitrags für den Eurovision Song Contest im schwedischen Malmö meine Hoffnungen auf die Sängerin Marie Reim und ihr Lied „Naiv“. Der Beitrag ist ein eingängiger Pop-Schlager mit allen Zutaten, die ein typischer Eurovision-Song so braucht: ein melodramatisches Lied über Anziehung und Täuschung in der Liebe, das man gut zu ausschweifenden Tanzbewegungen mit Freunden im Club mitträllern könnte. Marie Reim trug bei ihrem Auftritt ein glitzerndes, halbtransparentes Kleid aus roter Spitze und wurde von sexy männlichen Tänzern begleitet. Der Auftritt hatte also genau diesen Camp-Flair, der das Markenzeichen der Eurovision ist. Und sie sang auf Deutsch: Nur einer der anderen acht Songs in der nationalen Vorauswahl war auf Deutsch, und keiner davon war ein typisch deutscher Pop-Schlager.
Als Eurovision-Fan der alten Schule freue ich mich immer noch, wenn Lieder in den offiziellen Sprachen ihrer Herkunftsländer gesungen werden. Denn gerade diese sprachliche Vielfalt macht Eurovision im Vergleich zu anderen Gesangswettbewerben im TV einzigartig: In Vielfalt geeint, wie das Motto der Europäischen Union so schön heißt. Seit 1999 müssen die Lieder laut ESC-Regeln nicht mehr in den Amtssprachen der jeweiligen Länder vorgetragen werden, weshalb seither die meisten Beiträge auf Englisch zum Besten gegeben werden. Nur noch wenige Beiträge aus Deutschland waren deutschsprachig – und seit 2007 überhaupt nicht mehr. Mit Lenas Lied „Satellite“ gewann Deutschland 2010 den Eurovision Song Contest sogar. Es war einer der wenigen deutschen Beiträge seit der Jahrtausendwende, die zu Ohrwürmern – was im Englischen tatsächlich als Lehnübersetzung „earworm“ vorkommt – geworden sind. Aber ohne deutschsprachige Lieder ist Eurovision ein Stückchen weniger europäisch geworden, denn sprachliche Vielfalt hilft nicht nur, die verschiedenen nationalen Identitäten voneinander zu unterscheiden, sondern steht auch für den kulturellen Reichtum eines integrierten Europas.
Das Verhältnis zwischen nationaler und europäischer Identität beim ESC ist widerspruchsvoll. Die Dominanz des Englischen hat eines der ältesten und beliebtesten Kulturereignisse Europas weniger europäisch gemacht (wobei der diesjährige ESC sprachlich ein wenig vielfältiger sein wird als im Vorjahr), doch steckt der ESC insgesamt voller Widersprüche. Nicht-Europäer*innen, die mit diesem Rohdiamanten des europäischen Kulturerbes nicht vertraut sind, muss man diese Widersprüche oft erst erklären. Zum Beispiel, dass der ESC so gern verspottet wird, zugleich aber extrem beliebt ist. Wir sind vereint durch unseren Eurotrash ... oder sollte es doch eher Eurotreasure heißen ...? Oder dass in dem Wettbewerb auch immer Politisches mitschwingt, obwohl die Organisator*innen doch immer darauf beharren, es sei ein unpolitischer Wettbewerb ... Dass Australien und Israel vertreten sind, obwohl sie gar nicht in Europa liegen ... Und dass die Wettbewerbsbeiträge zwar einzelne Länder repräsentieren (oft nicht in den offiziellen Landessprachen) und der ESC doch eine Triebkraft europäischer kultureller Integration ist. Es gibt kein anderes kulturelles Ereignis, das die Europäer*innen so vereint wie der ESC, der in den letzten Jahren rund 160 Millionen Zuschauer*innen angezogen hat ... Ach ja, und man kann zwar das eigene Land anfeuern, aber nicht für den eigenen Beitrag stimmen. Das zwingt die Fans, über andere Europäer*innen nachzudenken – und was sie miteinander verbindet.
Der Eurovision Song Contest ist die größte Abstimmung Europas.
Und der wohl größte Widerspruch von allen: Dieses unpolitische Ereignis ist die größte Abstimmung Europas. Seit seinen Anfängen im Jahr 1956 wird der ESC von der Europäischen Rundfunkunion organisiert, einem institutionell völlig unabhängigen Zusammenschluss nationaler öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten aus Europa und dem Mittelmeerraum. Seit Ende der 1990er Jahre das öffentliche Televoting eingeführt wurde (etwa zur gleichen Zeit, als die Sprachregelung abgeschafft wurde), können dank der breiten geografischen Streuung seiner Mitglieder und der unpolitischen Mitgliedschaftskriterien der Europäischen Rundfunkunion beim alljährlichen ESC so viele Menschen in so vielen Ländern Europas auf so vielfältige Weise über ein gemeinsames Ereignis abstimmen wie sonst nie. Im Vergleich dazu finden die Wahlen zum Europäischen Parlament nur alle fünf Jahre und nur in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union statt. 2024 nehmen 27 Länder an der Europawahl teil, beim ESC sind es 37. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wählt die Bürgerschaft nur Kandidierende aus ihrem eigenen Land. Beim ESC hingegen können sie nur für Teilnehmende aus anderen Ländern stimmen.
Die Europäer*innen analysieren die Ergebnisse von Europas größter Abstimmung gerne auf folkloristische Weise. Sie suchen nach Bündnissen bzw. Spannungen in einem globalen Kontext diasporischer, postkolonialer, regionaler, religiöser und sexueller Identitäten, die Menschen über Ländergrenzen hinweg verbinden. Einer der beliebtesten Beiträge in diesem Jahr heißt „Rim Tim Tagi Dim“ von Baby Lasagna aus Kroatien. Das Lied handelt von Emigrant*innen, insbesondere aus Kroatien, die seit dem Beitritt ihres Landes im Jahr 2013 aus wirtschaftlichen Gründen in andere, wohlhabendere Regionen der EU ausgewandert sind. Kann gut sein, dass eben diese kroatischen Expats von Deutschland oder Schweden aus für Baby Lasagna stimmen werden, kurz bevor sie dann bei den Wahlen zum EU-Parlament für deutsche und schwedische Kandidierende stimmen.
Die europäische Rundfunkunion bezeichnet den ESC nach wie vor als unpolitisches Ereignis, damit internationale Konflikte diese Demonstration europäischer Einheit nicht untergraben, die ja eigentlich vielmehr durch überstaatliche Eintracht untermauert werden sollte. Laut einer Wettbewerbsregel müssen alle beteiligten nationalen Sendeanstalten alle während der Sendung dargebotenen Wettbewerbsbeiträge auch ausstrahlen, selbst aus Ländern, mit denen ihr jeweiliges Land vielleicht keine diplomatischen Beziehungen unterhält oder in einen militärischen oder politischen Konflikt verwickelt ist. Das betraf etwa Griechenland und die Türkei, als sie in den 1970er Jahren erstmals an dem Wettbewerb teilnahmen. Oder Armenien und Aserbaidschan, seit sie 2006 und 2008 zum ESC zugelassen wurden. Und Russland und die Ukraine seit Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2014. Oder als Länder wie Russland, wo LGBTIQ-Rechte unterdrückt werden, zusehen mussten, wie eine bärtige Drag-Queen aus Österreich den Wettbewerb gewann: Conchita Wurst, die durch ihren ESC-Sieg 2014 mit dem Lied „Rise Like a Phoenix“ europaweit bekannt wurde.
Im Gegensatz zu Conchita Wurst bleiben die allermeisten Mitwirkenden eher nationale Sternchen, als dass sie zu europäischen Stars werden. Das gilt sogar für viele Gewinner*innen des Wettbewerbs. Von den 1.758 Liedern, die von 1956 bis 2024 beim ESC eingereicht wurden, wurden einige internationale Hits, die heute noch in ganz Europa gespielt werden, wie die Beiträge der Megastars Domenico Modugno, ABBA und Céline Dion. Der Erfolg der meisten Eurovision-Beiträge beschränkt sich jedoch auf ihr Hit-Potenzial in der Heimat („Schlager“ ist übrigens eine Lehnübersetzung des englischen Worts „hit“).
Der prägende Einfluss des ESC auf die europäische Pop-Kultur zeigt sich aber auch an typischen Sprüchen, die sich auf dem ganzen Kontinent eingebürgert haben, wie etwa der Gruß „good evening, Europe“; oder wie man in ganz Europa mit den Aussprüchen „twelve points“ (die maximale Punktzahl, die ein Land auf einer Skala von 1 bis 8, 10 und 12 vergeben kann) oder „zero points“ Beifall oder Ablehnung ausdrücken kann. Auch die französischen Versionen davon, wie „nul points“ oder „douze points“ sind zu Schlagwörtern geworden, da Französisch die zweite offizielle Wettbewerbssprache ist und nach wie vor in den Moderationsskripts der Sendungen verwendet wird. Das ist ein Erbe der frühen Nachkriegsjahre, als Französisch noch die Sprache der internationalen Diplomatie war.
Auch wenn die ESC-Beiträge meist nur in ihren eigenen Ländern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, hat der Wettbewerb doch tatsächlich unseren Gesangsstil und Sprachgebrauch in Europa beeinflusst. Der ESC ist zeitgleich mit den Gründungsorganisationen der Europäischen Union entstanden, war aber ursprünglich nicht als europäisches Integrationsprojekt gedacht. Der Wettbewerb wurde Mitte der 1950er Jahre von der Europäischen Rundfunkunion konzipiert, um durch den Austausch von Programmen und technische Zusammenarbeit die Entwicklung der aufstrebenden westeuropäischen Fernsehdienste zu fördern. Dahinter stand das Eurovisionsnetzwerk der Organisation, das dem Wettbewerb seinen Namen gab. Zu einer Zeit, als nationale Fernsehanstalten noch in den Kinderschuhen steckten, bot diese Zusammenarbeit eine gute Möglichkeit, kostengünstig Programme auszutauschen. Daraus ergab sich auch eine unerwartete Entwicklung: Als sich das Eurovisionsnetzwerk 1954 den Kreis aus zwölf Sternen als Logo gab, trat er erstmals als Symbol für eine europäische Organisation in Erscheinung. 1955 nahm der Europarat den Kreis aus zwölf goldenen Sternen als europäische Flagge an. Im Jahr 1985 wurde er zur Flagge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Heute ist er die Flagge seiner Nachfolgeorganisation: der Europäischen Union.
Der ESC war zwar nicht als Instrument der europäischen Integration gedacht, ist aber zu einem Symbol dafür geworden.
Der ESC ist das wohl leuchtendste Beispiel für eine Fernsehsendung, die Europäer*innen durch eine simultane, länderübergreifende Ausstrahlung miteinander verbindet. Die Europäische Rundfunkunion und andere europäische Organisationen haben zwar auch andere dahingehende Versuche unternommen, doch waren sie meist nicht von Dauer. Fernsehen blieb weitgehend eine nationale Angelegenheit. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft trat in den späten 1980er und 1990er Jahren sogar einige Male als Unterstützerin des Wettbewerbs auf, als sie versuchte, eine Kulturpolitik für eine europäische Identität zu entwickeln, wobei sie sich von der Eurovision inspirieren ließ. Der Europäischen Union ist es bislang noch nicht gelungen, ein kulturelles Ereignis zu veranstalten, das dem ESC an Beliebtheit das Wasser reichen kann.
Der ESC war zwar nicht als Instrument der europäischen Integration gedacht, ist aber zu einem Symbol dafür geworden. Allerdings waren nur wenige Wettbewerbsbeiträge je explizite Lobgesänge auf die europäische Integration. Das prominenteste Beispiel ist Italiens Gewinnerbeitrag von 1990: „Insieme: 1992“ von Toto Cutugno, in diesem Jahr wird der Niederländer Joost Klein „Europapa“ singen. Aber weltweit gibt es keinen anderen so langlebigen und beliebten internationalen Gesangswettbewerb wie den ESC (die US-amerikanischen und asiatischen Adaptionsversuche der letzten Jahre sind nicht wirklich in Schwung gekommen). Das zeigt, dass der ESC etwas spezifisch Europäisches an sich hat, das über nationale Identifikationen hinausgeht.
Auch wenn sich bei beide Einrichtungen als „Union“ bezeichnen, sind die internationalistischen Ziele der Europäischen Rundfunkunion nicht mit den supra-nationalistischen Zielen der Europäischen Union zu verwechseln. Dass das Eurovisionsnetz so erfolgreich einen gemeinsamen Markt für Radio- und Fernsehprogramme schaffen konnte, lag wohl eben daran, dass sich die Europäische Rundfunkunion von der Politik anderer westeuropäischer Organisationen distanzierte, insbesondere von ihren supranationalistischen Zielen. Die Schweiz als Gastgeberin des allerersten ESC und Sitz der Europäischen Rundfunkunion ist nie der Europäischen Union beigetreten. Und das Vereinigte Königreich, das weiterhin am ESC teilnimmt und ihn 2023 sogar im Namen der Ukraine ausgerichtet hat, ist schon seit 2020 nicht mehr in der Europäischen Union. Deswegen beruft sich die Europäische Rundfunkunion so beharrlich auf ihre unpolitische Ausrichtung.
Während der ESC eine europäische Identität herausgebildet hat, hat er auch nationale Identitäten neu geprägt.
Wie man an den Mitgliedern der Europäischen Rundfunkunion selbst sieht, ist Fernsehen in Europa nach wie vor eine stark nationale Angelegenheit, ebenso wie die Popmusik. Zwar hat der ESC die Europäer*innen durch die Schaffung gemeinsamer kultureller Bezüge vereint. Mehr noch als transnationale Ikonen hat er aber nationale Ikonen geschaffen und nationale Identitäten geprägt. Der Patriotismus, der sich in der Begeisterung für die eigenen nationalen Beiträge beim ESC zeigt, spiegelt die Robustheit nationaler Identitäten wider, trotz oder gerade wegen europäischer Integrationsprozesse. Während der internationale Wettbewerb ESC also eine europäische Identität herausgebildet hat, hat er auch nationale Identitäten neu geprägt und sie durch neue Medien, Technologien und Modeerscheinungen in ein attraktiveres, modernes und beständigeres Licht gestellt.
Der ESC zeigt jedoch auch, dass diese nationalen Identitäten keine unvermischten oder einzigartigen Phänomene sind. Vielmehr werden sie durch kulturellen Transfer neu gestaltet. Das zeigt sich an Ausdrücken wie „naïveté“, „earworm“, „good evening, Europe“, „douze points“ und „Baby Lasagna“, ebenso wie am Schlager, einer populären Musikrichtung, die in der Zwischenkriegszeit entstand und ihren Ursprung in der Operette hatte. Das deutsche Wort Schlager taucht häufig als Lehnwort in anderen europäischen Sprachen auf und reiht sich neben anderen Begriffen wie Chanson und Rock’n’Roll, die den ESC mitgeprägt haben, in das mehrsprachige Wörterbuch der Musik ein.
Marie Reim vertritt Deutschland in diesem Jahr nicht beim Eurovision Song Contest, denn bei der nationalen Vorauswahl setzte sich Isaak mit seinem englischsprachigen Beitrag „Always on the Run“ durch. Aber ich bin nicht „naïve“, wenn ich doch hoffe, dass Deutschland im nächsten Jahr mit einem deutschsprachigen Schlager vertreten sein wird. Die Deutschen sollten stolz auf ihre Schlager sein und ihr Ohrwurm-Potenzial erkennen, dann gibt es irgendwann auch wieder „douze points.“ Und da der ESC schon seit jeher die Widersprüche zwischen dem Nationalen und dem Europäischen mit ganzem Herzen akzeptiert, sollte der Wettbewerb auch wieder europäischer werden und sprachliche Vielfalt als einen europäischen Schatz feiern.
Dr. Dean Vuletic ist Historiker mit Schwerpunkt auf dem zeitgenössischen Europa und der Spezialisierung auf den Eurovision Song Contest, auch als Medienkommentator und öffentlicher Redner. Er unterrichtete den weltweit ersten Universitätskurs über Eurovision an der New York University und verfasste als Marie Skłodowska-Curie Fellow an der Universität Wien das erste wissenschaftliche Buch über die Geschichte des ESC, "Postwar Europe and the Eurovision Song Contest" (London: Bloomsbury, 2018). Er hat an der Columbia University in moderner europäischer Geschichte promoviert und lehrt derzeit an der Universität Luxemburg.
Aus dem Englischen übersetzt von Kerstin Trimble.