„Der wunde Punkt des Westens ist die Angst vor Islamismus und Extremismus“

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Die syrische Unabhängigkeitsflagge weht über einer Demonstration in Idlib, Syrien
 
20. Juni 2013
 

Heinrich-Böll-Stiftung: Der Syrien-Konflikt stand auf der Tagesordnung des G-8-Gipfels ganz weit oben. Die USA haben kurz vor dem Gipfel bekanntgegeben, Waffen an die Rebellen liefern zu wollen und damit eine Kehrtwende in ihrer Syrienpolitik vollzogen. Welche Bedeutung haben die Ankündigungen der USA und welche konkreten Schritte erwarten Syrerinnen und Syrer nun?

Bente Scheller: Ich denke, dass eine der großen Enttäuschungen sein wird, dass zwar Syrien auf der Tagesordnung ganz oben stand, dass aber letztlich die Ergebnisse wiederum mager sind. Auch was Ankündigungen der USA betrifft, hat man in Syrien schon so viele Ankündigungen gehört, dass man nun wirklich darauf wartet, ob diesmal Taten folgen.

Es hat ja vorher schon Waffenlieferungen gegeben, die dann möglicherweise nicht direkt durch die USA erfolgt sind, die aber gezeigt haben, dass es einen großen Unterschied macht, ob Rebellen elaboriertere Waffen bekommen oder nicht. Was viel ins Land kommt, sind genau die Kleinwaffen und die Kalaschnikows, die man für einen Bürgerkrieg braucht und wenig, was durch die Rebellen tatsächlich gegen die Armee eingesetzt werden kann. Und jetzt ist die Erwartungshaltung natürlich, dass Anderes geschickt wird, was tatsächlich dann in Richtung Luftabwehrraketen geht oder auch gegen den massiven Panzereinsatz einsetzbar wäre. Wie gesagt, solange man nicht sieht, dass sich tatsächlich etwas ändert, wird man das in Syrien wahrscheinlich nicht als eine Kehrtwende empfinden.

Ein Grund dafür, dass bisher noch so wenig passiert ist, ist ja auch die Haltung Russlands, das weiter an seiner Unterstützung des Assad-Regimes festhält und eben auch dies auf dem G-8-Gipfel demonstriert hat. Wirkt sich das aus auf die Chancen für eine Beendigung des Konflikts? Wie wichtig ist diese Haltung Russlands und anderer externer Akteure wie zum Beispiel Hisbollah oder das iranische Regime?

Das ist auf jeden Fall ganz entscheidend für das Assad-Regime, aber ich denke auch für die westliche Politik. Dadurch, dass Russland so unnachgiebig an seiner Unterstützung, aber auch an der Idee eines Gipfels in Genf festhält, ist natürlich klar, der Westen, der interventionsunwillig ist, nimmt das auch als willkommene Ausrede, sich über andere Möglichkeiten der Intervention wenig Gedanken zu machen. Dabei haben wir seit Beginn des Konfliktes sehen können, dass das Assad-Regime auf Zeit spielt, um seine gewaltsame Niederschlagung des Aufstands fortsetzen zu können. Dementsprechend fassen sowohl das Assad-Regime als auch westliche Staaten, die sich weiterhin nicht entscheiden können, was eigentlich zu tun ist, dieses Festhalten an einer diplomatischen Lösung, die so wahrscheinlich nie erfolgen wird, als Segnung auf.

Wenn wir uns die Situation in Syrien anschauen ist ganz klar: Alle Erfolge, die das Regime verzeichnet hat, sind darauf zurückzuführen, dass im Moment sehr viele Kämpfer der Hisbollah dort einreisen. Wir sehen an den Listen der Toten, die zurückkommen, wer denn dort überhaupt aktiv war. Das ist nicht das Fußvolk der Hisbollah, was dort hinfährt, sondern es sind wirkliche Elitekämpfer, die eingesetzt werden. Und wir sehen natürlich auch, es gibt oft tägliche Lieferungen von Waffen und Ersatzteilen von Russland und dem Iran an Syrien. Ohne das wäre dieses Regime längst gestürzt.

Wie sieht angesichts dieser Lage die aktuelle Situation in Syrien aus? Vor allem in den befreiten Gebieten, aber auch in den Gebieten, die jetzt durch das Regime zurückerobert wurden?

Die humanitäre Situation sieht im ganzen Land sehr schlecht aus. Da spielt es für viele Zivilisten eigentlich kaum eine Rolle, ob sie in befreiten oder nicht befreiten oder wiedereroberten Gebieten leben, weil natürlich sehr wenig Geld ins Land kommt. Das wenige Geld, das da ist, investiert die Regierung im Wesentlichen in das, was sie als ihre eigene Verteidigung sieht. Es gibt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Viele landwirtschaftliche Flächen können nicht mehr genutzt werden, weil der Konflikt dies verhindert oder bewusst durch Regierungstruppen verbrannte Erde zurückgelassen worden ist. Viel Infrastruktur ist zerstört. Es gibt wirklich viele Syrerinnen und Syrer, Millionen von ihnen allein innerhalb des Landes, die auf externe Hilfe angewiesen wären, und diese erreicht sie nicht. Aber auch in den Nachbarländern sieht es nicht besser aus mit der Versorgung der Flüchtlinge.

Wie ist die Situation speziell in den vom Regime zurückeroberten Regionen?

Da ist natürlich nicht nur zu beobachten, dass die humanitäre Situation schlecht ist, sondern hier ist es auch einfach durch die Konstellation zwischen Regierung und Bevölkerung extrem schwierig. An vielen Orten, die zurückerobert wurden, hat es ein sehr rücksichtsloses Vorgehen gegenüber allen dort Anwesenden gegeben, sprich, man hat sich nicht nur auf die Bekämpfung derer, die man als Rebellen sieht, konzentriert, sondern man hat entweder unterschiedslos Rebellen und Zivilisten getroffen, oder aber zum Teil wirklich gezielt Zivilisten ins Visier genommen. Das bezieht sich insbesondere auf Leute, die vor Bäckereien warten, das bezieht sich aber auch auf Krankenhäuser, auf Schulen, die gezielt ins Visier genommen worden sind, was natürlich an diesen Orten, die zurückerobert worden sind auch unter denjenigen, die zuvor Assad-Unterstützer waren, sehr wenige zurücklässt, die diesem Regime noch vertrauen und die sich dort geborgen oder geschützt fühlen. Natürlich nutzt das Regime seine Überlegenheit, indem es an diesen Orten auch zeigt, wer der Sieger ist. Und dementsprechend hören wir aus vielen zurückeroberten Orten, dass viele Menschen nicht nur verhaftet werden, sondern direkt getötet werden, und viele „verschwinden“.

Es gibt also gezielte, breit angelegte Racheakte?

Ja. Und hier ist natürlich gerade im Zuge der Eroberungen auch sehr wichtig, dass nicht nur die reguläre Armee oder die regulären Sicherheitskräfte des Staates dort einrücken, sondern oft kommen im Schlepptau die eher privaten Milizen, die zwar auf Regimeseite kämpfen, aber nicht offiziell angeheuerte Soldaten sind. Diese sind die ruchlosesten und plündern dann auch noch. Bereits beim Akt der Rückeroberung werden hier eklatante Menschenrechtsverstöße verübt und das setzt sich danach unter Umständen fort.

Würden Sie sagen, dass es einen Unterschied zwischen den kurdischen befreiten Gebieten und den arabischen befreiten Gebieten gibt?

Ich denke, dass sich die Situation in den kurdischen Gebieten von Anfang an unterschiedlich gestaltet hat, dadurch, dass kurdische Akteure versucht haben, sich von der Rebellion und zum Teil auch vom Regime fernzuhalten. Lange Zeit hat es Abkommen zwischen der Regierung und kurdischen Kräften gegeben, in die wir wenig Einblick haben, eine Art Arrangement dahingehend, dass kurdische Milizen diese Gebiete kontrollieren können. Und hier sehen wir, dass die externen Einflüsse auch hiervor nicht Halt machen. Mit dem Friedensschluss zwischen der PKK und der türkischen Regierung hat sich hier noch einmal etwas Wesentliches verändert. Erst seitdem sehen wir, dass die Regierung beispielsweise auch Qamischli, also einen zentralen Ort in den kurdischen Gebieten, bombardiert hat, weil sie nicht mehr darauf vertraut, dass ihr vorheriges Abkommen mit PKK-nahen Kräften so noch trägt. An manchen Orten in den kurdischen Gebieten sehen wir, dass es weiterhin Arrangements gibt zwischen denjenigen, die dem Staat kritisch gegenüber stehen, und staatlichen Kräften, die nach wie vor präsent sind. Das ist aber auch das, was wir an anderen Orten im Lande beobachten, nur haben wir natürlich deutlich mehr Einblick in die kurdischen Gebiete, weil es immer noch leichter ist, diese zu bereisen als Zentralsyrien, und wir von dort aus auch mehr Bilder gespiegelt bekommen.

Aktivisten beklagen eine mangelnde Solidarisierung mit der syrischen Revolution in Deutschland und in Europa. Gründe sind unter anderem die Wahrnehmung des Konflikts als zu kompliziert oder zu konfessionalistisch geprägt. Wie groß schätzen Sie die reale Gefahr ein, dass der Konflikt zu einem konfessionellen Bürgerkrieg wird oder sogar auf die gesamte Region übergreift?

Hierzu muss man zunächst sagen, dass die syrische Regierung hier oft wahrgenommen worden ist als ein Akteur, der sozusagen den Deckel darauf hält. Man hat Syrien begriffen als einen Staat, der sehr divers ist, konfessionell, aber auch ethnisch, und dass diese säkulare Regierung der Garant dessen ist, dass alle dort miteinander auskommen.

Aber was von Konfliktbeginn an sehr deutlich zu beobachten war, ist dass die Regierung versucht, die Spaltung zwischen den Konfessionen zu bestärken. Es ist ganz massiv sichtbar in der Rekrutierung der Milizen, die ich erwähnte. Diese sind im Wesentlichen unter den Alawiten, die ja auch an der Regierung maßgeblich beteiligt sind und waren, zu beobachten, aber auch unter anderen Minderheiten. Das sind Milizen, die sich durch besonders gewalttätiges Verhalten auszeichnen und die auch in den Massakern, die es gegeben hat, wirklich eine offensichtliche Rolle gespielt haben. Das hat natürlich in gemischten Gebieten dazu beigetragen, dass man sich dann generell gegen diese Minderheiten verwahrt, weil man ihnen nicht mehr traut, auch wenn eben nicht alle von ihnen daran beteiligt waren.

Es hat weitere Schritte der Regierung gegeben, das Ganze als eine Auseinandersetzung zwischen im Wesentlichen terroristischen Kräften und einer Regierung, die das Land, die Region oder im Zweifelsfall die Welt davor schützen will, dass dort eine Al-Qaida-nahe Bewegung entsteht, zu porträtieren. Diese Bewegung war zu Anfang nicht da. Es war zu Anfang ein Volksaufstand und erst nach Monaten hat er sich überhaupt militarisiert, und nach weiteren Monaten hat er diese konfessionelle Note angenommen. Das ist etwas, das durch die Zögerlichkeit des Westens mit geschaffen worden ist und das durch die Regierung bewusst intendiert war, weil sie genau weiß: Der wunde Punkt des Westens ist die Angst vor Islamismus und Extremismus, und es so zu porträtieren, als sei sie die legitime Kraft, die versucht, eben das einzuhegen, hat hier sehr gut funktioniert. Man sieht, dass die Angst davor einen Großteil der Berichterstattung prägt.

Es gibt durchaus konfessionelle Züge, die im Laufe des Konflikts entstanden sind, die aber wirklich sehr stark damit zu tun haben, wie Menschen beteiligt und behandelt werden. Es geht um eine zum Teil historisch angelegte Konstellation, in der man sich als der Unterdrückte oder die Unterdrückte sieht. Es hat aber mindestens ebenso viel damit zu tun, was im Hier und Jetzt geschieht, mit der aktuellen gewalttätigen Auseinandersetzung. Aber für uns ist beeindruckend zu sehen, dass all die Akteure, mit denen wir kooperieren und die nicht durch uns aus der Taufe gehoben wurden, sondern die sich an uns wenden, gemischt konfessionell sind.

Und wir haben uns sehr genau angeguckt, was sehen wir an Videos aus Syrien, was sehen wir für Slogans. Einige der sehr berühmt gewordenen konfessionalistischen Slogans haben wir auf keinem einzigen Transparent finden können und wir haben keine Augenzeugen oder Ohrenzeugen dafür finden können, dass es sie tatsächlich gegeben hat. Zum Beispiel den hier berühmt gewordenen Slogan "Alawiten in den Sarg, Christen nach Beirut". Wir haben keine einzige Person unter den Hunderten von Interviewten finden können, die diesen Slogan tatsächlich gesehen oder gehört hat. Wir sehen hingegen viele Demonstrationsplakate und Initiativen, bei denen die Symbolik in eine andere Richtung geht. Da werden Kreuze neben Halbmonde gestellt, da werden eindeutig auf Versöhnungen ausgerichtete Slogans ausgegeben. Ich will nicht sagen, dass es die Mehrheit ist, aber es ist wichtig anzuerkennen, dass das existiert und wir sollten sehr vorsichtig sein, ob wir mit unserem Sinnieren über Konfessionalismus nicht erst das Phänomen bestärken, was wir eigentlich dort alle nicht sehen wollen.

Was könnte der Westen und insbesondere Deutschland tun, um die Lage der Menschen in Syrien zu verbessern?

Wir haben eben darüber gesprochen, wie wenig Solidarität es hier gibt, und das war von Anfang an ein Phänomen. Man hat sich mit syrischen Bürgerinnen und Bürgern nicht solidarisiert, was die Spendenbereitschaft extrem geprägt hat. Für kaum ein Land sind so wenige Spenden geflossen wie für Syrien und ich denke, dass es hier Initiativen gibt, die unterstützenswert sind. Aber ich denke, dass wir auch gut daran täten, wirklich zu signalisieren, dass wir das Problem ernst nehmen und dass wir nicht immer nur versuchen, nicht involviert zu werden.

Da wir mit dem G-8-Gipfel angefangen haben: Eine der Forderungen, die auf die Agenda des Gipfels gekommen ist, ist die Untersuchung, ob chemische Waffen eingesetzt worden sind. Die syrische Regierung hat die UN-Kontrolleure nicht ins Land gelassen. An dem Einsatz gibt es kaum einen Zweifel, das hat Frankreich ja auch bestätigt. Die Formulierung des Gipfels, dies müsse „weiter untersucht werden“, deute ich jedoch so, dass die internationale Gemeinschaft versucht sich davor zu drücken, die vernünftigerweise gesetzte rote Linie der chemischen Waffen einzuhalten und selbst hier versucht zu lavieren. Es wird als eine große Heuchelei empfunden, dass man einerseits sagt, wir wollen vorsichtig sein, dass wir mit unseren Aktivitäten jetzt nichts in die falschen Hände geraten lassen und dabei immer nur die Rebellen meint, während viele Syrer längst die syrische Regierung als die falschen Hände verstehen. Deswegen wäre es glaube ich sehr wichtig, hier zu signalisieren: Wir nehmen das Problem ernst und wir halten uns auch an die Maßstäbe, die wir gesetzt haben und ziehen uns nicht zurück, sobald es irgendwie ernst damit wird.

Ich habe außerdem ja schon gesagt, dass die Situation vieler derer, die noch im Lande sind, verheerend ist. Internationale Organisationen sagen, da können sie kaum aktiv werden, sie können ja nicht einreisen. Wir sehen auch bei der Hilfe der UN, die mit der Zustimmung der syrischen Regierung erfolgt ist, dass davon selbst in regierungskontrollierten Gebieten nicht viel ausgeliefert wird. Aber ich denke, dass man im Westen auf jeden Fall die Möglichkeit hätte, mehr für die Flüchtlinge in den Nachbarstaaten zu tun. Hier mangelt es auch in den Lagern sowohl in Jordanien als auch in der Türkei an vielem. Im Libanon gibt es keine Flüchtlingslager, aber es gäbe viele Möglichkeiten, hier humanitäre Unterstützung zu leisten, die bislang nicht ausgeschöpft werden.

Und ich denke, wir sollten die eigene Politik auch nicht aus der Verantwortung nehmen. Weiterhin werden sehr wenige Menschen in Deutschland aufgenommen. Es ist fast unmöglich geworden, Visa für Syrer zu bekommen. Wir hören von 5000, die hier jetzt aufgenommen werden sollen, aber praktisch sehe ich noch nicht, dass es tatsächlich stattfindet. Ich kenne eine Initiative von Syrerinnen und Syrern, die in Nordrhein-Westfalen leben, die sagen, wir können Familienangehörige finanzieren, ihr müsst sie nur reinlassen. Sie hinterlegen Garantien und versuchen wirklich, sowohl für den deutschen Staat als auch für die syrischen Flüchtlinge etwas zu tun, aber das stößt bislang auf kein Gehör.

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Das Interview führten Antonie Nord und Sakina Abushi

 

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Bente Scheller

Bente Scheller ist Leiterin des Regionalbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Ihr Spezialgebiet ist Außen- und Sicherheitspolitik, sie hat an der Freien Universität Berlin zum Thema Syrien promoviert.
 
 
 

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