Archivierter Inhalt

Erklärung von Memorial zu einer Verwarnung der Staatsanwaltschaft

Lesedauer: 4 Minuten

27. Februar 2006
Übersetzung: Jens Siegert

Am 26. Februar 2006 hat die Staatsanwaltschaft der Stadt Moskau die geschäftsführende Direktorin der Internationalen historisch-aufklärerischen, wohltätigen Menschenrechtsgesellschaft Memorial Jelena Schemkowa eine schriftliche Verwarnung unter dem Titel „Über die Unzulässigkeit von Gesetzesverletzungen“ ausgesprochen. Anlass der Verwarnung war, dass Memorial ein Gutachten des Muftis des Asiatischen Teils Russlands, Nafigulla Aschirow, über vier Broschüren der in Russland verbotenen Organisation „Hisb ut-Takhrir“ auf seine Website gestellt hat.

Die Staatsanwaltschaft wirft Memorial vor, damit das Bundesgesetz „Über Gegenmaßnahmen zu extremistischer Tätigkeit“ zu verletzten. Wie wir erfahren haben, hat die Moskauer Staatsanwaltschaft auch die Einleitung eines Strafverfahrens im Zusammenhang mit der Publikation auf der Website von Memorial geprüft, dann allerdings die Entscheidung getroffen, eine Verwarnung auszusprechen.

Unserer Ansicht nach, ist das nichts anderes als eine Einschränkung der Redefreiheit und ein Versuch ungesetzlicher Zensur, der der Verfassung und den internationalen Verpflichtungen der Russischen Föderation widerspricht.

Das Gutachten von Nafigulla Aschirow wurde auf Bitte von Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende des Komitees „Bürgerbeteiligung“ (Grazhdanskoje Sodejstwije) und Mitglied im Rat des Menschenrechtszentrums Memorial ausgearbeitet. Anlass war, dass seit Herbst 2004 in einigen Regionen Zentralrusslands, in der Wolgaregion, im Ural und in Sibirien Dutzende von Strafverfahren gegen russische Staatsbürger und Bürger anderer GUS-Staaten eröffnet wurden, weil sie Schriften von „Hisb ut-Takhrir“ aufbewahrt, studiert oder verbreitet hatten. In keinem einzigen Fall wurde ein fachliches, religionswissenschaftliches Gutachten erstellt.

Mufti Nafigulla Aschirow ist ein anerkannter russischer Experte und ausgebildeter Islamwissenschaftler. Nachdem er die Broschüren „Das System des Islams“, „Die islamische Persönlichkeit“, „Hisb ut-Takhrir“ und „Die Konzeption von Hisb ut-Takhrir“ untersucht hatte, kam er zu dem Schluss, dass sie keine Aufrufe zur Gewalt und zur Aufstachelung zum Rassenhass enthalten. Ebenso würden in den Broschüren keine religiösen Gefühle oder die Würde von Menschen anderen Glaubens verletzt. Aschirow wies auch darauf hin, dass in den Untersuchungs- und Gerichtsdokumenten nicht statthafte Formulierungen wie „Aufrufe in verdeckter Form“ oder „mittelbare Förderung der Anstachelung zur Feindschaft“ benutzt werden, um den extremistischen Charakter einiger islamischer Veröffentlichungen zu belegen. Der Gutachter drückte seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der eröffneten Strafverfahren gegen die Verbreitung der Broschüren aus, weil die Verfahren nach seiner Meinung dem Gesetz „Über die Gewissensfreiheit und religiäse Organisationen“ widersprechen.

Es ist klar, dass die Meinung eines Gutachters mit der offiziellen Position übereinstimmen kann oder auch nicht. Die Gesetzgebung der Russischen Föderation garantiert ihm aber das Recht, seine Meinung auszusprechen und zu veröffentlichen. Deshalb ist die Anschuldigung, Memorial könnte mit der Veröffentlichung seiner Meinung gegen § 12 des Gesetzes „Über Gegenmaßnahmen zu extremistischer Tätigkeit“ verstoßen haben und „ein öffentlich zugängliches Netzwerk zu extremistischer Tätigkeit“ genutzt haben, absurd und seltsam.

Absurd ist auch der Hinweis auf § 17 des genannten Gesetzes, dass die Verbreitung von Materialien von verbotenen Organisationen ebenso untersagt, wie die Verbreitung von Informationen, die Material einer verbotenen Organisation enthalten. Der Text von Aschirow ist nicht nur kein „Material“ von Hisb ut-Takhrir, sondern beinhaltet nicht einmal Zitate aus den Broschüren der Organisation.

Wenn das Gesetz so willkürlich und weitgehend interpretiert wird, dann kann jede beliebige öffentliche Kritik an einer Gerichtsentscheidung über das Verbot einer Organisation oder Publikation, in der, selbst in Form kritischer Kommentare, Veröffentlichungen der verbotenen Organisation zitiert werden, als strafrechtlich relevante „extremistische Tätigkeit“ gewertet werden. Auf diese Weise kann jeder beliebige öffentliche Zweifel daran, dass die Beschuldigungen gegen eine Organisation oder einen Menschen begründet sind, von der Staatsmacht als ein Gutheißen der Tätigkeit von Terroristen gewertet werden. Genau so ist die Staatswanwaltschaft Memorial gegenüber verfahren.

Interessant ist auch, dass die Verwarnung der Moskauer Staatsanwaltschaft sich auf die „Schlussfolgerungen“ eines „sozial-psychologischen Gutachtens“ stützt,  dessen Autoren unbekannt sind und dessen Text den Vertreter von Memorial nicht zugänglich gemacht worden ist.

Die Verwarnung der Staatsanwaltschaft verweist zudem auf eine Entscheidung des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 14. Februar 2003, deren Text bis heute offiziell nicht veröffentlicht worden ist.

Memorial ist der Auffassung, dass die Handlungen der Moskauer Staatsanwaltschaft gegen die Verfassung der Russischen Föderation und die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten verstoßen und wird die Verwarnung vor Gericht anfechten.

Dossier

Demokratie in Russland

Demokratie in Russland ist für ein friedliches und demokratisches Europa unabdingbar. Nur ein demokratisches Russland wird ein verlässlicher und berechenbarer Nachbar sein.