Überheblichkeit und Ignoranz: Die Untersuchungsberichte zur japanischen Atomkatastrophe

Anti-Atomdemonstration in Tokio im September 2011. Foto: Genpatsu yamero! Lizenz: CC-BY-NC-SA Quelle: Flickr

1. August 2012
Siegfried Knittel
Wie sehr der Super-GAU des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi die japanische Gesellschaft verändert hat, sieht man an den wöchentlichen Demonstrationen gegen die zivile Atomkraftnutzung. Japans Gesellschaft ist aufgewühlt wie seit Jahrzehnten nicht und die politische Klasse, die weiterhin an der Kernkraft festhält, kann daran nicht vorbeigehen. Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass Regierung und Parlament zwei hochkarätige Untersuchungskommissionen eingesetzt haben, welche die Katastrophe von Fukushima aufzuklären versuchten. Sie legten im Juli ihre Schlussberichte vor. Eine dritte Untersuchung wurde von einer privaten Initiative unter Führung des ehemaligen Chefredakteurs der Tageszeitung Asahi Shimbun Yoichi Funabashi durchgeführt.

Drei Kommissionen, ähnliche Ergebnisse

Alle drei Kommissionen hatten über lange Monate hinweg Regierungsmitglieder, die Kernkraftwerksüberwachungsbehörden, die von der Verstrahlung der Region betroffenen Menschen - und so weit es der Kernkraftbetreiber TEPCO zuließ - auch dessen Mitarbeiter befragt.  Allen drei Kommissionen ging es darum, die Ursachen der Katastrophe herauszufinden und daraus Empfehlungen für den weiteren Betrieb der Kernkraftwerke abzuleiten. Zugleich aber verweigerten sie eine Aussage zum Weiterbetrieb oder zum Ausstieg aus der Kernkraftnutzung. Aus ihren Untersuchungen wurde auch die Frage der justiziablen Schuld von Personen an der Katastrophe ausgeklammert.

Die drei Kommissionen kamen in wesentlichen Teilen ihrer Untersuchung zu ähnlichen Ergebnissen. Zentral war die Aussage, dass die Katastrophe menschengemacht sei. Entscheidend war es aber herauszufinden, inwiefern sie von Menschen gemacht worden war.

Da war zum einen das geringe Wissen um die Erdbebengefahr in den Sechziger Jahren, als Japan glaubte seinen großen Energiehunger aufgrund seines starken Wirtschaftswachstums mit dem Bau von Kernkraftwerken stillen zu müssen. Letztlich sei der Ausbau der Kernkraftnutzung von der gesamten Gesellschaft mitgetragen worden. Die spätere Ignoranz gegenüber den Gefahren für die Kernkraftwerke müsse man vor diesem Hintergrund sehen.

Detailliert beschreiben Parlaments- und Regierungskommission die jahrzehntelange Unbekümmertheit von Regierung, Überwachungsbehörde und Kraftwerksbetreibern gegenüber möglichen Störungen. Überheblich wurden alle Gefahrenhinweise für die Kernkraftwerke in den Wind geschlagen. Weder die Diskussion um mögliche Terroranschläge auf Kernkraftwerke, die nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001 auch in Japan aufkam, noch der Tsunami vom 26. Dezember 2004 im Indischen Ozean ließen Firmen- und Regierungsverantwortliche über die Sicherheit der japanischen Kernkraftwerke nachdenken.

Jahrzehntelang unbekümmert

Diese Sorglosigkeit hatte auch Auswirkungen auf die innerbetriebliche Vorbereitung auf einen Notfall. Die Belegschaft in Fukushima wurde kaum für einen Notfall trainiert und es gab keine brauchbaren Handbücher für den Notfall. Die Beschäftigten mussten plötzlich Arbeiten verrichten, für die sie kein Know-how besaßen und die sie nie trainiert hatten. Die verhängnisvolle Schließung eines Ventils, das den Kühlkreislauf am Reaktor 1 der Anlage unterbrach, was zum Schmelzen der Reaktorbrennstäbe führte, ist auf diesen Missstand zurückzuführen.

Die beiden Vorsitzenden der Parlaments- und der Regierungskommission Kiyoshi Kurokawa und Yotaro Hatamura konstatierten, dass der typisch japanische Managementstil im Kernkraftwerk die Bewältigung der Katastrophe erschwert habe. Die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern habe nicht funktioniert, weil man in japanischen Firmen mit Rücksicht auf betroffene Kollegen keine Fehler benenne, ein Geist der Unterordnung innerhalb der Firma sowie gegenüber der Regierung habe die Zusammenarbeit behindert und die Kommunikation erschwert. In Internetforen wurde Kurokawa jedoch vorgehalten, dass an der Wallstreet dieselbe Sorglosigkeit und Closed-Shop-Mentalität, die er dem japanischen Managementstil zurechne, zur Finanzkrise von 2008 geführt habe.

In der Einschätzung des Verhaltens des umstrittenen Premierministers Naoto Kan und der Frage, ob TEPCO alle Mitarbeiter aus dem Kernkraftwerk abziehen wollte, was Kan und die Regierung glaubten, differieren die Berichte. Die Untersuchungskommissionen des Parlaments und der Regierung sind der Ansicht, dass es keine Belege dafür gebe, dass TEPCO alle Beschäftigten aus dem havarierten AKW abziehen wollte. Die unabhängige private Kommission geht jedoch davon aus, dass TEPCO tatsächlich geplant hatte, alle Mitarbeiter aus dem havarierten AKW abzuziehen, was Kan mit einem persönlichen Besuch der TEPCO-Zentrale verhindert habe. In Interviews und Zeitungsartikeln zum Untersuchungsbericht seiner Kommission hat Funabashi die Ansicht vertreten, dass ohne Kans entschiedenes Verhalten die Katastrophe wahrscheinlich ein ganz anderes Ausmaß angenommen hätte.

In einem Interview warf TEPCO-Chairman Katsumata allerdings die Frage auf, ob man die TEPCO-Beschäftigten hätte zwingen können, im AKW weiterzuarbeiten, wenn ihr Leben unmittelbar bedroht gewesen wäre. Katsumata ging es dabei wohl primär um die Rechtfertigung von TEPCOS Überlegungen sein Personal vom havarierten AKW abzuziehen. Tatsächlich aber ist diese Frage ein Beleg für den menschenverachtenden Charakter der Kernkraft, die im Schadensfall derartige Überlegungen nötig macht.

Menschengemachte Katastrophe

Eine große Rolle spielt in den Berichten die Frage, ob die Reaktoren des AKWs schon beim Erdbeben oder erst durch den Tsunami beschädigt wurden. Die drei Kommissionen kommen hier zu drei Einschätzungen, von wahrscheinlicher Beschädigung bis zu wahrscheinlicher Nichtbeschädigung. Klären lässt sich das erst, wenn der Zugang zum jetzt noch hoch verstrahlten Reaktorkerngehäuse möglich ist, was noch Jahre dauern wird. Sollten schon die Kerngehäuse beim Erdbeben beschädigt worden sein, hätte dies Konsequenzen für die Sicherheit aller Kernreaktoren in Japan, zumal die meisten auf oder in unmittelbarer Nähe von aktiven Erdbebenspalten stehen. Es wäre dies ein ganz starkes Argument für den raschen Ausstieg aus der Kernenergie.

Alle drei Untersuchungsberichte kommen zu dem Schluss, dass die Katastrophe bei richtigem Verhalten der Kraftwerksbelegschaft hätte vermieden werden können. Aber das heißt auch, dass man auf eine Technologie, die menschliche Fehler nicht verzeiht, verzichten muss.
Die Medien haben die Arbeit der Untersuchungskommissionen von Beginn an mit verschiedenen Intentionen verfolgt. Die dem Industrieverband Keidanren nahestehende Wirtschaftszeitung Nikkei benutzte die verschiedenen Interimsberichte zur ihrem beliebten Kan-Bashing. Aber auch die konservativen Medien kamen nicht umhin, TEPCO scharf zu kritisieren. Literaturnobelpreisträger und Anti-Kernkraftaktivist Kenzaburo Oe schloss sich ausdrücklich Kiyoshi Kurokawas Kritik des japanischen Managementstils an und verlangte einen Mentalitätswandel hin zu einer offeneren Gesellschaft. Das ist ja das, worin sich die wachsende Anti-Atomkraftbewegung mit ihrer Demonstrationspraxis übt und die neue Grüne Partei wird mit Sicherheit ein Teil dieses ‚Mehr an gesellschaftlicher Offenheit’ werden.

Konkret aber wird sich die AKW-Bewegung vor allem durch die von den Kommissionen mehr oder weniger für wahrscheinlich gehaltene Beschädigung der Reaktoren vor dem Tsunami schon durch das Erdbeben einen Argumentationsschub erhalten, weil dadurch die behauptete Erdbebensicherheit aller japanischen AKWs infrage steht.

Weiterführende Links und Literatur:

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Siegfried Knittel ist Journalist und lebt in Tokio.