Die Zukunft der NATO - Eine Diskussion zu kollektiver Sicherheit in und ausserhalb Europas

Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und Madeleine Albright ehemalige US-Außenministerin.
Foto: Sebastian Gräfe, Heinrich-Böll-Stiftung Washington

30. Mai 2012
Sebastian Gräfe
Die meisten Regierungsdelegationen der NATO-Staaten waren schon auf dem Weg zum Chicagoer Flughafen, um in ihre Heimatländer zurückzureisen. Eine kleine Runde von 25 hochrangigen Verteidungsexperten blieb jedoch ein paar Stunden länger in der Stadt. Denn das Washingtoner Büro der Heinrich-Böll-Stiftung und das Center for American Progress (CAP) hatten zu einem Runden Tisch nach Abschluss des Gipfels geladen. Unter den Gästen waren Peter MacKay, kanadischer Verteidigungsminister, Rasa Juknevičienė, litauische Verteidigungsministerin, Julianne Smith, Beraterin für Nationale Sicherheit des Vizepräsidenten Joe Biden, und Madeleine Albright, ehemalige US-Außenministerin.

Welche Lehren können aus den zivil-militärischen Einsätzen der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan und Libyen gezogen werden? Welche Herausforderungen gibt es für zukünftige kollektive Sicherheit aus transatlantischer Perspektive? Rudy deLeon, Senior Vice President of National Security and International Policy bei CAP, und Ralf Fücks, Co-Vorsitzender der Heinrich-Böll-Stiftung, stellten diese Fragen an den Anfang der Diskussion. In deren Verlauf wurden die unterschiedlichen Interessenlagen einer Gemeinschaft von 28 Mitgliedsstaaten deutlich. Vertreter aus Nordamerika betonten mit Blick auf die Gipfelbeschlüsse noch mal die Notwendigkeit eines langfristigen internationalen Engagements in Afghanistan auch nach dem Abzug der Truppen in 2014. Für osteuropäische Teilnehmer stand aufgrund der Geschichte ihrer Region zunächst die Genugtuung im Mittelpunkt, Teil des westlichen Bündnisses zu sein, das sie nach wie vor als unabdingbare Garantie für ihre Sicherheit und Souveränität betrachten – eine Perspektive, die uns in Westeuropa weitgehend fremd geworden ist. Aber schon im nächsten Atemzug betonten sie die Schwierigkeit, die Erfüllung ihrer Verpflichtungen im Rahmen der NATO und den Sparzwang unter einen Hut zu bekommen.

Damit hatten sie das vermutlich wichtigste Thema für die Zukunft der NATO angesprochen: wie kann dieses Bündnis weiterhin relevant für die äußere Sicherheit seiner Mitglieder bleiben, wenn sich deren öffentliche Haushalte unter Schulden biegen und weitreichende Ausgabenkürzungen verlangen? Noch vor einem Jahr hatte Robert Gates, damaliger US-Verteidigungsminister, zu seinem Abschied vor seinen NATO-Kollegen den Rest der Allianz hart kritisiert, nicht genug in den Verteidigungsbereich zu investieren. Er mahnte an, die Partner sollten nicht mehr erwarten, dass die USA wie selbstverständlich die Hauptlast im Bündnis trage. Ein Jahr später wurde in Chicago klar, dass nun auch die USA im Boot der Kürzungen sitzen. Selbst die Supermacht Amerika kann sich den bisherigen Umfang ihrer Rüstungsausgaben – und damit auch ihres globalen Militärapparats – nicht mehr leisten. Das Ausmaß der Kürzungen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten ist zum Teil gravierend. Eine für die Zukunft der NATO entscheidende Frage ist, ob jeder Mitgliedsstaat im Alleingang über Kürzungen und künftige militärische Fähigkeiten entscheidet, oder ob das im Rahmen einer koordinierten Strategie des Bündnisses geschieht. Dabei geht es um Arbeitsteilung und Kooperation. Diese Diskussion wird inzwischen unter dem Stichtwort ‚Smart Defense‘ geführt.

Dessen Hauptbestandteil ist das Konzept des ‚Pooling and Sharing‘. Dabei bringen die einzelnen Mitgliedsstaaten der NATO nationale Kapazitäten in gemeinsame Verbände und Strukturen des Bündnisses ein. Zugleich erklären sie sich bereit, Verantwortung für bestimmte Aufgaben zu übernehmen, von denen sie andere Partner entlasten (siehe auch Böll/SWP Studie „Weimar Defence Cooperation. Projects to Respond tot he European Imperative“)  Dieses Konzept birgt jedoch noch ungeklärte Fragen hinsichtlich der Aufgabe nationaler Souveränität. In diesem Sinne betonte Ralf Fücks, ‚Smart Defense‘ erfordere eine politische, keine technokratische Lösung. Der entscheidende Test für dieses Konzept sei, ob die Mitgliedsstaaten bereit sind, einzelstaatliche Vorbehalte zugunsten gemeinsamer Handlungsfähigkeit zurückzustellen. Darüberhinaus sah er die Ursachen für die wachsende Interventionsmüdigkeit der Bündnismitglieder nicht im mangelnden Geld, sondern im Verlust der Glaubwürdigkeit der bisherigen Interventionspolitik. Die Irak-Intervention sei zum Desaster geworden, die Kosovo-Frage sei nach wie vor nicht gelöst, und die Ziele der Afghanistanmission seien nach und nach heruntergeschraubt worden. Inzwischen sei der Einsatz der Bevölkerung nur noch schwer vermittelbar.

Diesen Gedanken aufnehmend, wurde die Frage aufgeworfen, wie die sicherheitspolitische Kluft zwischen Regierungen und wachsenden Teilen der Zivilgesellschaft überbrückt werden kann. Die Akzeptanz von Auslandseinsätzen hängt vor allem davon ab, ob sie als gerechtfertigt angesehen werden und ob eine plausible Strategie für ein Ende des Konflikts und den Rückzug der NATO-Truppen in einem überschaubaren Zeitraum präsentiert werden kann. In diesem Zusammenhang wurde die positive Rolle der kanadischen Regierung bei der Entwicklung des Konzeptes der ‚internationalen Schutzverantwortung‘ (Responsibility to Protect, R2P) betont.

War der eine Gipfel erst gerade abgeschlossen, schrieben die Ticker schon über den nächsten: den EU-Gipfel in Brüssel nur zwei Tage später. Diese Nachrichtenlage machte gerade für die Europäer am Tisch die doppelte Herausforderung deutlich: in der Finanz- bzw. Wirtschaftspolitik wie auch der Sicherheitspolitik stehen die Mitglieder der Europäischen Union bzw. der NATO vor wichtigen Entscheidungen, von denen die Zukunft der jeweiligen Gemeinschaft abhängt. In beiden Fällen sehen viele Beteiligte die Lösung in einer politischen Vertiefung des jeweiligen Bündnisses, um gemeinsam handlungsfähig zu bleiben. In beiden Fällen wird damit die Aufgabe von Kernelementen nationaler Souveränität unumgänglich sein. In beiden Fällen muss auch bei einer Übertragung von Kompetenzen auf Gemeinschaftsinstitutionen eine demokratische Legitimierung gewährleistet sein. Die Diskussion dazu – insbesondere für die Folgen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik – hat gerade erst begonnen.

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Sebastian Gräfe ist Programmdirektor für Außen- und Sicherheitspolitik der Heinrich Böll Stiftung Nordamerika