«Mein Leben ist hier»

Interview

Mimi ist 38 Jahre alt. Sie arbeitet als Erzieherin in einem jüdischen Kindergarten mit Kindern aus sieben Nationen.

 

Mimi mit leuchtend lila Haaren beim Interview in einem Büro der Heinrich-Böll-Stiftung

7. Oktober 2023

Es war ein ganz normaler Samstag. Ich habe mein Handy rausgeholt, die WhatsApps beantwortet, bin auf Instagram gegangen und habe dann drei Stunden im Bett verbracht und mir Videos und Kommentare angeschaut, die ich vielleicht nicht hätte anschauen sollen.

Ich habe meinen Freunden in Israel geschrieben und ich habe auch meinen deutschen jüdischen Freund*innen geschrieben: Okay, jetzt geht der Antisemitismus wieder los.

Meine israelischen Freund*innen waren froh, dass ich mich gemeldet hatte, sie waren geschockt und mussten sich sortieren, sie wussten auch nicht, wie es weitergehen sollte.

Meine deutschen Freunde? Das ist jetzt ein bisschen doof zu sagen, aber die jüdischen waren so wie ich, die nichtjüdischen Freund*innen waren sehr, sehr still... Von denen kam einfach nichts. Ich glaube, die waren sich der Tragweite nicht bewusst, die man in der jüdischen Community sehr wohl ahnte.

Ich bin dann am Sonntag alleine zur Demo gegangen. Dort habe ich auch Freund*innen getroffen, aber viele meiner jüdischen Freund*innen waren auch nicht da, weil sie Angst vor Übergriffen hatten. Erst nach einer Woche haben sie mich gefragt, wie es mir geht.

Vielleicht hat es so lange gedauert, die Verbindung herzustellen: Das ist in Israel passiert, aber du arbeitest in einem jüdischen Kindergarten. Ich weiß es nicht. Von meinen sehr engen nichtjüdischen Freund*innen hätte ich mir gewünscht, dass es nicht so lange gedauert hätte. Ich habe sehr schlecht geschlafen, hatte Alpträume. Ich bin zum ersten Mal seit Halle mit Angst zur Arbeit gegangen, wirklich mit Angst.

Im Kindergarten

In der Kita war es schwierig, wir haben viele israelische Kolleginnen. Aber ich war sehr dankbar, dass wir eine jüdische Kita sind: Keine von uns wurde komisch angeschaut, wenn sie mal kurz in der Küche saß und weinte oder einfach nur apathisch in die Gegend guckte. Wir mussten nichts erklären, nicht diskutieren, wir konnten reden. Wir sind uns näher gekommen, alte Streitigkeiten wurden beiseite gelegt, wir sind wachsamer und aufmerksamer füreinander geworden. Ja, es gab einen großen Aufschrei in der Elternschaft mit der Frage, wie wir die Sicherheit in der Kita gewährleisten können. Ich habe damals die Kita mit geleitet und war in ständigem Austausch mit den Eltern über ihre Sorgen. Aber die Eltern und wir haben es geschafft, das von den Kindern fernzuhalten. Viele Eltern haben auch gefragt, ob sie uns helfen können. Oder ob wir eine Psychologin bräuchten.

Ich spreche nicht mehr über mein Jüdischsein

Mit meinen engsten jüdischen Freundinnen und Freunden spreche ich viel über das, was wir sehen und hören.

Wir haben uns getroffen, zusammen geweint, zusammen getrunken, auch zusammen gelacht, aber sehr verhalten.

In anderen Freundeskreisen versuche ich, das Thema Israel-Palästina möglichst auszuklammern, weil ich nicht in so eine  würde ich sagen  Verteidigungshaltung gedrängt werde möchte. Gerade in der linken Szene ist es schwierig, darüber zu sprechen, weil diese Szene sich zwar nicht komplett, aber zu einem großen Teil auf die palästinensische Seite stellt und die Hamas als Friedenskämpfer bezeichnet, was sie nicht sind. Das ist super schwierig für mich, weil es eigentlich immer ein bisschen wie meine Familie war. Da konnte ich mich als jüdischer Mensch sicher fühlen. Das ist jetzt komplett weg.

Ich spreche nicht öffentlich darüber, weil mein Jüdischsein sofort mit der Frage verbunden wird, wie ich zur Politik in Israel stehe. Ich frage ja auch keinen Katholiken, wie die Situation in Rom ist oder wie es um den Papst steht.

Nur: Dieser Konflikt scheint allgegenwärtig zu sein, mit dem Hauptvorwurf, Israel sei ein Apartheidstaat. Da gibt es viele Missverständnisse. Ich bin auch als Deutsche gegen Netanjahu auf die Straße gegangen, wie viele Israelis, weil diese Gesetzesreform ein Unding ist.

Aber das heißt nicht, dass ich dem Staat sein Existenzrecht absprechen kann, und ich möchte weiterhin, dass es für uns ein Zufluchtsort bleibt. Denn natürlich denke ich darüber nach, was es bedeutet, wenn die AfD immer stärker wird, wenn Angriffe auf Jüdinnen und Juden wieder salonfähig werden.

Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich mich völlig unsicher fühle, aber ich fühle mich definitiv auch nicht mehr sicher.

Ich sitze zum Beispiel in einer Kneipe und am Nebentisch fallen laute Sätze wie: «Na ja, Israel ist ja wie Hitler, na ja» oder «Juden können ja morden ohne Ende». Das hätte man vor dem 7. Oktober wahrscheinlich nur am Küchentisch gesagt. Ich habe Freund*innen, die gehen nicht mehr nach Kreuzberg oder Neukölln, wenn sie mit Israelis zusammen sein wollen. Die wissen, wie Hebräisch klingt. Niemand geht mehr mit Schmuck auf die Straße, der uns «verraten» könnte.

Mit Freundinnen und Freunden sprechen wir über unsere Ängste, und plötzlich ist es uns allen wichtiger geworden, unser Judentum zu leben. Früher war es eher so, dass ich es irgendwie gemacht habe. Jetzt habe ich meine Chanukkia auf Reisen dabei und werde die Kerzen anzünden. Das habe ich früher nie gemacht. Jetzt ist es mir wichtig. Das finde ich krass.

Ich will nicht weg

Meiner Mutter musste ich versprechen, dass ich wieder meine zweite Staatsbürgerschaft aktiviere. Ich bin in Chile geboren und mit drei Monaten nach Deutschland adoptiert worden.

Ich will nicht weg. Deutschland ist meine Heimat. Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich meine Freund*innen, hier arbeite ich. Mein Leben ist hier.

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir Frieden wünschen. Nicht nur in Israel und Palästina, sondern auch im Iran, im Irak, überall, wo es gerade brennt, was man hier vielleicht gar nicht so mitbekommt. Und ich wünsche mir, dass meine Religion kein Thema mehr ist. Dass es okay ist, wenn ich mit einer Davidstern-Kette rausgehe, dass ich keine Angst haben muss, dass ich ganz normal mit und unter anderen leben kann.

Aber es gibt auch schöne Erlebnisse. Wir haben eine muslimische Mitarbeiterin, die uns einfach umarmt hat. Unsere muslimische Partnerkita hat uns ein Care-Paket geschickt mit Keksen, Kaffee und Bildern, die die Kinder gemalt haben. Als ich es öffnete, musste ich fast weinen.

Es tut einfach so gut zu sehen und auch zu wissen, dass es noch andere Stimmen gibt.

Wie lernt man das Zusammenleben?

Aber das Zusammenleben lernen, das kann nur in der Kindheit beginnen.

In jedem Kindergarten sollte über alle Religionen gesprochen werden, dann gibt es vielleicht nicht nur Weihnachten, sondern auch Chanukka und Ramadan.

Kindern ist es völlig egal, wo man herkommt, welche Hautfarbe man hat, welcher Religion man angehört. Kindern ist das egal, Kinder spielen miteinander. Sie sind zusammen, sie haben Konflikte, sie lösen ihre Konflikte ganz anders. Wenn man früh gegen den Hass arbeitet, hat man eine Chance.

Nur wenn diejenigen, die sich auch um die Erziehung der Kinder kümmern, sich damit auseinandersetzen und ihr eigenes Weltbild noch einmal hinterfragen - das muss ich auch jeden Tag tun -, dann kann es vielleicht gelingen. Aber das ist ein langer Weg.

Das Gespräch führte Annette Maennel Mitte Dezember 2023.