Tauben sind streng verboten

Hintergrund

Seit Ende Februar 2022 werden im staatlichen russischen Kulturbetrieb Künstler:innen und Kulturmanager:innen unbarmherzig verfolgt, wenn sie sich gegen den Krieg in der Ukraine geäußert haben – unabhängig davon, ob dies nun den Tatsachen entspricht, oder nur bürokratischen Wahnvorstellungen entspringt.

Illustration

Von Leonie Lessing*

*Name geändert. Die folgenden Informationen zur Situation des russischen Kulturlebens aus dem vergangenen Frühjahr stammen überwiegend aus unterschiedlichen, öffentlich zugänglichen Quellen, noch bevor am 23. Mai 2022 das Justizministerium der Russischen Föderation die Heinrich-Böll-Stiftung zur «unerwünschten Organisation» erklärte. Seit diesem Datum riskieren russische Staatsbürger:innen, die sich mit der Stiftung in Verbindung setzen, unkalkulierbare Strafandrohungen.

Aus Sicherheitsgründen haben wir deshalb einige Namen geändert.

 

Der russische Kulturbetrieb wurde schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine stark reguliert und eingeschränkt. Dennoch waren vor dem 24. Februar noch viele Dinge möglich. Seitdem jedoch lässt sich eine endlos scheinende Abfolge diskriminatorischen Vorgehens der Behörden gegen Leiter:innen staatlicher Einrichtungen beobachten, um Künstler:innen und deren Werke aus politischen Gründen zu verbieten – zum Teil geprägt von einer atemberaubenden Ignoranz und Willfährigkeit. Auch auf Seiten der Regierung ist der Kreativität keine Grenze gesetzt.

Blüten der Ignoranz

... wie die kulturfernen und geschichtsvergessenen Äußerungen der Chefredakteurin von Russia Today, Margarita Simonjan. Ihr zufolge wirkt sich jedes offizielle Verbot von Zensur geradezu verderblich aus. In der Liveausstrahlung der russischen Propagandasendung des Moderators Wladimir Solowjow sagte sie, Russland habe nur zwei «fast zensurfreie» Perioden gekannt: zwischen den beiden Revolutionen und während der Perestroika mit den darauf folgenden 1990er Jahren, und beide hätten beinahe zum Zerfall des Landes geführt. Simonjan ist davon überzeugt, dass es die westlichen Länder waren, die Russland zwangen, den Verzicht auf Zensur in seiner Verfassung festzuschreiben - und zwar um Russland zu schwächen. 

An wirklich Historisches dachte hingegen Jana Landratowa, stellvertretende Vorsitzende des Dumaausschusses für Bildung, als sie am 18. April der Kultusministerin Olga Ljubimowa vorschlug, für die Zeit der so genannten Spezialoperation in der Ukraine die „künstlerischen Beiräte“ wieder zu beleben – so nannten sich in der UdSSR die Zensurkommitees. Landratowa entdeckte gleichzeitig aber auch ganz neue Bedingungen für die Existenz von Kultur:

 „Ich verstehe wohl, dass jegliche Zensur für die Kultur tödlich ist,“ - wusste sie wohl noch von damals – „aber unter den Bedingungen eines unerbittlichen Informationskrieges gegen Russland reagiert unsere Gesellschaft besonders empfindlich auf Provokationen aller Art».

Als Beispiele für solche Provokationen nannte Landratowa Oleg Kuliks auf der Messe «Art Moskwa» ausgestellte Monumentalskulptur «Die große Mutter», in welcher sie eine Persiflage auf das patriotische Monument «Mutter Heimat» in Wolgograd erblickt.

Kulik, ein Klassiker der zeitgenössischen russischen Kunst, wurde in den 1990er Jahren dank seiner Performances als «Hundemensch» berühmt. Er wurde zu der Angelegenheit verhört. Die vor vier Jahren geschaffene Skulptur versteht er als Kommentar zur vierten Welle des Feminismus – sie bringe den Kampf zweier sozialer Geschlechter zum Ausdruck. Er habe mit dem schwertschwingenden Frauenakt die Trennung von seiner Lebensgefährtin verarbeitet. 

Als weitere Provokation bezeichnete Landratowa das Musical «Schach», welches angeblich Russland abwerte. «Schach» läuft im Theater des Moskauer Jugendpalastes schon seit zwei Jahren. Es handelt sich dabei um ein britisches Musical über den Wettkampf zweier Schach-Champions, eines amerikanischen und eines sowjetischen, zur Zeit des Kalten Krieges.

Durch völlige Unkenntnis des weltberühmten Literaturwissenschaftlers, Semiotikers und Sohn Sankt Petersburgs, Juri Lotman, zeichnete sich der Chef der dort für die Russische Nationalbibliothek zuständigen Sicherheitsabteilung, Maxim Sujew, aus. Am 25. März, am Tag der Kulturschaffenden, hatten die Mitarbeiter:innen der Bibliothek ihren Kolleg:innen mit dem Foto Lotmans auf einem Plakat gratuliert.

Sujew, hielt den Gelehrten für Mark Twain, zerriss das Poster und schrieb eine Denunziation gegen die Mitarbeiter:innen. Das vermeintliche Porträt des amerikanischen Schriftstellers erschien Sujew als «politischer Extremismus». 

Was wie ein Schildbürgerstreich anmutet, hatte ernste Folgen: den «Schuldigen», der Leiterin der Abteilung für Kulturprogramme, Olga Kaganowskaja, und der für Ausstellungen verantwortlichen Alexandra Gos, entzog die Direktion der Bibliothek ihnen vorher zugesprochene Leistungsprämien wieder. Nach den Worten der stellvertretenden Direktorin, Polina Theresa Dawydowa, sei das Foto Lotmans in einer Bibliothek unangebracht, da der Sohn des Gelehrten «die heutige Staatsmacht diffamiert», und da die Mitarbeiterinnen in der «gegenwärtigen komplizierten politischen Kampfsituation» verantwortungsbewusster handeln müssten. Gos und Kaganowskaja kündigten aus Protest gegen ihre Vorgesetzten.

Von ganz oben verfolgt

Illustration

Die Verfolgung von unangepassten Kulturschaffenden wurde unterdessen systematisch und auch ohne beschönigende Erklärungen organisiert, von ganz oben. Dort hatte die Entlassung Waleri Gergijews vom Posten des Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker ins Schwarze getroffen.

«Wieso dürfen die das und wir nicht?», fragte am 1. März der Präsident der Russischen Duma Wolodin auf seinem Telegram-Kanal. Er forderte die russischen Kulturschaffenden auf «bis Montag klar Position zu beziehen». Fast mit derselben Formulierung – in Bezug auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine – hatte sich die Stadt München an Gergijew gewandt.

Einen Monat später nahm Wolodin das Thema wieder auf, wobei er sich dieses Mal konkreter ausdrückte: «Wer vom Staat – und das heißt vom Volk – unterhalten wird und es verrät, sollte leitende Posten in öffentlichen Kultur-, Bildungs-, Gesundheits- und anderen Institutionen räumen». Er versprach nachzuprüfen, ob auch alle Abweichler:innen entlassen würden.

Da man freie Autor:innen ja nicht entlassen kann, forderte die Vorsitzende des Kulturausschusses der Duma, Jelena Jampolskaja, Buchhändler:innen  auf, die Werke der inzwischen verbotenen Schriftsteller Boris Akunin und Dmitry Glukhovsky aus ihren Regalen zu entfernen. Falls nämlich diese Buchhändler:innen staatliche Hilfen während der Pandemie erhalten hätten, meint Jampolskaja, so verfügten sie nicht über das Recht mit «antirussischen» Schriftstellern» zusammenzuarbeiten.

Am 29. April schlug die selbe Abgeordnete vor, überhaupt alle Kulturschaffenden, die sich negativ «über Russland, über den Präsidenten und über das Volk» geäußert hätten, zu «ausländischen Agenten» zu erklären und ihnen «künstlerische Tätigkeit auf dem Territorium unseres Landes» zu verbieten.

Wie man die neuen Regeln durchsetzt

Schon am ersten Tag des Krieges versuchten die Kulturbeamten, in allen öffentlichen Einrichtungen jegliche Proteste im Keim zu ersticken.  Makar Saporoschski, ein Schauspieler vom Moskauer Majakowski Theater, machte am 24. Februar einen «Dringenden Appell» auf Instagram publik, der ihn soeben von seiner Theaterleitung erreicht hatte. Darin rief die Direktion ihre Mitarbeiter:innen auf, über die Ereignisse in der Ukraine zu schweigen. Begründung: «Nach Informationen aus dem Departement für Kultur der Stadt Moskau[1] werden negative Kommentare aller Art als Heimatverrat gewertet».

In den offiziellen Accounts öffentlicher Veranstaltungsorte ist sogar das Posten gewisser Symbole oder Bilder verboten. «Ich bin auf einer Konferenz über Inhalte im Internet gewesen – berichtet auf Instagram eine Museumsmitarbeiterin - Das Ministerium für Kultur kämmt die Accounts der überregional verwalteten Museen durch. Hier ist alles, was so in Posts verboten ist: Tauben – sind streng verboten, Schmetterlinge, hingegen, sind optional, Wolken darfst du auch nicht bringen. Bloß keine traurigen Posts und keine mit Anspielungen auf Frieden oder Pazifismus».

Mindestens zwei große Institutionen von überregionaler Bedeutung wurden wegen der Positionen ihrer Leiter:innen zerstört: das Meyerhold-Zentrum, ein äußerst wichtiges Forum für experimentelles Theater, und die Zeitschrift «Theater», eines der populärsten russischen Medien für Theaterkunst.

Am 24. Februar gab die Direktorin des Meyerhold-Zentrums, die Theaterkritikerin und Kuratorin Jelena Kowalskaja, ihren Posten auf. Am selben Tag schrieb der künstlerische Leiter des Theaters, der Regisseur Dmitrij Wolkostrelow, einen Text für die Selbstpräsentationen des Theaters im Netz, in welchem er die «Spezialoperation» verurteilte. Einige Tage später entließ ihn das Departement für Kultur der Stadt Moskau ohne Erklärung. Das Meyerhold-Zentrum wurde zur Filiale eines anderen Moskauer Theaters umfunktioniert: der Schule für dramatische Kunst. Danach entließ man weitere 15 Mitarbeiter:innen.

Ebenfalls am 24. Februar hatte die Chefredakteurin der Zeitschrift «Theater», die Kritikerin und Regisseurin Marina Dawydowa, eine Petition gegen den Krieg veröffentlicht. Danach erhielt sie Drohungen per Mail und Telefon, Unbekannte malten das Symbol Z auf ihre Tür. Einige Tage später verließ sie das Land. Am 25. März forderte der Verband der Theaterschaffenden als Herausgeber der Zeitschrift das Erscheinen von «Theater» einzustellen. Die Homepage der Zeitschrift untersteht diesem Verband allerdings nicht und wird weiterhin aktualisiert

Entlassene und Ausgeschlossene

Illustration_3

Zahlreiche bisher in der kulturellen Sphäre Tätige, haben ihre Arbeit verloren. Hier nur einige Beispiele:

Eine der ersten war Katja Dolinina, die für die zentrale Filmbehörde, Goskino, zwei Moskauer Kinos geleitet hatte. Wegen ihrer Unterschrift unter einen offenen Brief wurde sie am 26. Februar gebeten zu gehen. Dolinina erzählte in einem Interview mit dem Internet-Magazin Cholod, wenn sie ihren einstigen Chefs glauben dürfe, hätte «Moskino» den Befehl dazu aus dem Moskauer Departement für Kultur erhalten. Und am selben Tag seien insgesamt tausend Menschen aus verschiedenen diesem Departement unterstehenden Organisationen entlassen worden.

Am 10. März wurden einige Leiterinnen der zehn Filialen des Bachruschin-Museums für Theaterkunst entlassen, außerdem Leute aus dem dazu gehörenden Museum "Wohnung von Wsewolod Meyerhold" und Michail Schtschepkins Museum. Einige von ihnen hatten sich öffentlich gegen die «Spezialoperation» geäußert.

Der künstlerische Leiter des Russsichen Theaters in Ulan Ude, der Regisseur Sergej Lewizki, hatte die «Spezialoperation» von ihren ersten Tagen an kritisiert. Am 22. März entließ das burjatische Kultusministerium Lewizki ohne Erklärung. Eine Woche später stellte man seinen Lehrauftrag am Ostsibirischen Kulturinstitut ein, angeblich «vorübergehend». Am 27. April wurden in Burjatien zwei Verfahren gegen den Regisseur nach dem Paragraphen über die «öffentliche Besudelung von Symbolen für den militärischen Ruhm Russlands» eröffnet. Eines von ihnen endete mit einer Strafe von 45.000 Rubeln (umgerechnet ca. 750 Euro).

Am 19. April forderte der Vorsitzende des Verbandes der Theaterschaffenden, Alexander Kaljagin, den Dramenautor Michail Durenkow aus eben diesem Verband auszuschließen. Der hatte in Facebook einen Beitrag geschrieben, in dem er der russischen Armee die Niederlage wünschte, und befindet sich inzwischen in Finnland.

Einige der abgesagten Projekte und Events

Einer der beliebtesten und meistgespielten zeitgenössischen russischsprachigen Bühnenautoren ist Iwan Wyrypajew. Er hatte versprochen, alle seine Einnahmen aus Russland für die Ukraine zu stiften und deshalb stellten russische Theater nach und nach Aufführungen seiner Stücke ein. Das Wolkow-Theater in der Stadt Jaroslawl kritisierte den Autor auf seiner Homepage: «Wir wollen nicht, dass durch die Kunst des Theaters eine einseitige politische Position oktroyiert und Zuschauer gegen ihren Willen in irgendwelche Aktionen einbezogen werden».

Am 17. März hat der Verteidigungsminister Sergei Schoigu das Kultusministerium gebeten, in Russland alle Filme zu verbieten, an deren Entstehung der gegenwärtige Präsident der Ukraine Wladymir Selenski als Schauspieler, Drehbuchschreiber oder Produzent sowie der Produzent Alexander Rodjanski mitgewirkt haben. Letzterer ist Bürger der Ukraine, schuf aber in Russland seine berühmtesten Filme, «Stalingrad», «Lewiathan» und «Dylda (in Deutsch: die Bohnenstange)».

Am 31. März sollte eigentlich im Moskauer Filmpalast «Oktober» das internationale Dokumentarfilmfestival «Artdokfest» eröffnet werden, das schon seit Jahren von russischen Beamt:innen kritisiert und von regimetreuen Aktivist:innen attackiert wird. Aber eine halbe Stunde vor Programmbeginn wurde das Kino von der Polizei geräumt – offiziell wegen einer Minenwarnung. Am Eingang des «Oktober» übergoss ein Unbekannter den Präsidenten des Festivals, den Regisseur Vitalij Manski, mit roter Farbe. Der erklärte, er werde das Festival künftig nicht mehr in Russland durchführen.

Am 19. April schloss die Tretjakow-Galerie vorzeitig die Ausstellung des russisch-amerikanischen Künstlers Grischa Bruskin «Wechsel der Dekoration». Wie das Magazin «Art Guide» versichert, entsprach sie damit einer Forderung des Kultusministeriums, welches auf die Proteste «empörter Bürger» reagiert habe. Benannt war die Ausstellung nach einer Installation, die Bruskin im Jahre 2017 für die Biennale in Venedig geschaffen hatte – sie thematisierte lebende und tote Ideologien.

Im Mai setzte das Bolschoj Theater Kirill Serebrennikows Ballett «Nurejew» und Timofej Kuljabins Singspiel «Don Pasquale» ab. Beide Regisseure hatten gegen den Krieg protestiert und sind aus Russland ausgereist.

Am Abend des 29. Juni entließ das Moskauer Kulturdezernat die Leitung von drei untergeordneten Theatern. Dabei handelt es sich um das Gogol-Zentrum, den Sovremennik und die Schule für modernes Drama. Zugleich wurde der Name des Theaters von Gogol-Zentrum in Gogol-Theater geändert.

Im Jahr 2012 war das Theater von Kirill Serebrennikov übernommen worden, und seitdem war die Spielstätte im Zentrum Moskaus in der Nähe des Kurskij-Bahnhofs allen als Gogol-Zentrum bekannt. Serebrennikov selbst, der nach einem langwierigen Strafverfahren im Jahr 2021 von seinem Posten als Direktor zurücktrat, ist der Ansicht, dass dies faktisch die Schließung des Gogol-Zentrums bedeutet.

Für Russland war dieses Theater etwas völlig Neues. Nicht, weil es eine andere Art Theater spielte, sondern weil es ein anderes Verständnis von Theater als Ort praktizierte. In kürzester Zeit wurde das Gogol-Zentrum zu einem der meistbesuchten und wichtigsten Orte in Moskau. Es gab eine Buchhandlung, ein Café und Ausstellungen. Bürger:innen konnten einfach hingehen und sich dort aufhalten.

"Es war das Moskau der Zukunft. Kein "Theater-Haus", in dem man nur ein Gast ist, sondern ein "Theater-Park", in dem alle Bürger:innen die Eigentümer:innen sind.

Die Eintrittskarten wurden nur am Eingang in den Saal kontrolliert, während das Foyer als öffentlicher Raum fungierte, der von morgens bis abends allen Besucher:innen offen stand. Das Theater war nicht, wie sonst üblich, in einen sakralen und einen profanen Teil unterteilt - es war völlig transparent. „Die Zuschauer:innen des Gogol-Zentrums tun mir unendlich leid“,  schrieb der Theaterkritiker Anton Khitrov in seinem Instagram-Post. „Sie werden keinen eigenen Raum mehr haben, und der Staat will sogar die Erinnerung daran zerstören, indem er dem Theater seinen alten, nichtssagenden Namen gibt. Eine von Serebrennikovs besten Aufführungen, Die toten Seelen von Nikolay Gogol, endete mit dem Lied ‚Russland, was willst du von mir?‘ ‚Dieses Russland will, dass ihr von hier verschwindet‘, sagt uns das Moskauer Kulturministerium", so Khitrov in seinem Post.

 

[1]  Vergleichbar dem Kultursenat eines deutscheen Stadtstaates.