ZwIedentität

Ich habe Erinnerungen…

Kind mit kurdischer Flagge in traditionell kurdischer Kleidung

An ein Haus mit einer Veranda, auf der ich als Kind sitze und meine Kekse mit den Nachbarskindern teile. Während meine Großeltern auf ihren Stühlen sitzen, ihre Zigarette rauchen und ihren Çay trinken. Im Türrahmen hängt meine Schaukel, die sich im leichten Hauch des Windes hin und her bewegt.

Das Haus, gebaut von den Händen meines Großvaters, hat einen Innenhof und einen großen Garten, wo Hühner, Schafe und andere Tiere hausen. Die farbenreichsten Bäume und Blumen blühen, deren Duft ein Gefühl von Schwerelosigkeit auslöst. Auf dem Dach des Hauses ist es am schönsten. Hier verbringen wir die warmen Sommernächte auf Matratzen. Ich blicke in den Sternenhimmel und spüre die kühle Sommerbrise an meinen Wangen.

Erinnerungen, die aus einer Mischung von alten Kinderfotos, Erzählungen von Familienmitgliedern und Träumen bestehen. Bilder in meinem Kopf. Ich weiß nicht, ob sie real sind, aber die Emotionen sind es. Der Schmerz, die Sehnsucht.

Ich trage ein traditionell kurdisches Kleid, es ist ein Alltagskleid. Eines was meine Oma und alle anderen älteren Frauen täglich tragen. Ich betrachte mich im Spiegel und fühle mich wohl. Heute machen wir ein Picknick auf den Feldern. Wir packen unser Essen, Sonnenblumenkerne und Getränke ein. Wir machen uns auf den Weg zu unseren Autos und fahren los. Ich sitze hinten auf dem Pick-up, der Wind weht durch meine Haare. Ich strecke die Hände in die Luft und fühle mich frei. Die Felder sind geschmückt mit wunderschönen Blumen. Ich stehe mit meinem traditionellen Kleid auf dem Feld voller Blumen. Der Wind wird stärker, meine Haare und mein Kleid tanzen im selben Rhythmus. Ich fühle mich frei.

Erinnerungen an ein Leben, welches ich nie hatte oder vielleicht gehabt hätte, wenn meine Eltern nicht gezwungen gewesen wären, in ein anderes Land zu flüchten. Das Ausleben ihrer kurdischen Identität, mit Folter bestraft. Die einzige Lösung, das Exil. Es musste schnell gehen, die Flucht. Das eigene Leben in Gefahr. Kein Platz für meine Habseligkeiten, nur eine Puppe durfte mit.

Angekommen in einem fremden Land. Ich soll eine neue Sprache lernen. Ich soll eine neue Kultur lernen. Aufgewachsen in beiden Welten. Zuhause Kurdisch, draußen Deutsch. Nach vielen Jahren der Aneignung, endlich angekommen. Und doch bleibe ich das exotische Flüchtlingskind. „Du sprichst aber gut Deutsch.“, „Seit wann bist du in Deutschland?“, „Woher kommst du?“.

In meiner Heimat werden wir unterdrückt. Meine Identität wird geleugnet. Ich komme nach Deutschland, das Spiel geht weiter. „Kurdistan gibt es nicht“, „Ihr habt kein Land“. Die Leute lachen, über mich, meine Existenz, meine Berge. Aber wissen nicht, welch Leid ich in mir trage. Meine Identität, egal wo ich hingehe, nicht existent, geleugnet von allen Seiten. Irgendwann auch von mir selbst. Sage nicht mehr ich komme aus Kurdistan, traue mich nicht. Leugne meine Vorfahren, mit der Hoffnung dem Schmerz zu entkommen.  Menschen, die mir erklären, wer ich bin. Mich in eine Schublade stecken wollen. Bist du deutsch oder kurdisch. Das eine oder andere.

In Deutschland die Ausländerin. In der Heimat die Deutsche. Beides Welten, denen ich nie gerecht werden kann. Ein Zwiespalt. Nur dass der Spalt so breit ist, dass ich einen Spagat machen muss, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Auf der einen Seite sitzt meine Oma, mit ihrer Zigarette auf unserer Veranda. Auf der anderen Seite mein routinierter Alltag hier. Meine Identität, immer politisch, immer begleitet von Schmerz. Jeden Tag Nachrichten von ermordeten Landsleuten in der Heimat. Jeden Tag der Kampf um meine Identitäten. Beide Identitäten abgesprochen, bleibt das kleine Kind mit den Erinnerungen und keiner Identität.

Ich bin eine Fremde in der Fremde. Im Zwiespalt der Identitäten. Aufgewachsen mit einer Identitätskrise zur nächsten, habe ich gelernt:

Meine Identität,
euch zu unkonkret?
Lebt ihr meinen Schmerz, die Sehnsucht, wie ich bin?
Nein, denn nur ich lebe in mir drin.

Ich kann meine eigene Identität erschaffen,
Muss nicht gerecht werden, eurem Gaffen,
Mich zwischen dem Einen oder Anderen entscheiden, ohne Bezug zu meiner Realität.
Ich kann beides sein. Aus Zwiedentität wird Zweidentität.