Heute, am 31. Januar 2020, tritt das Vereinigte Königreich nach 47 Jahren offiziell aus der Europäischen Union aus. Zur Feier des Tages werden auf der britischen Insel erneut insgesamt 10 Millionen 50-Penny-Münzen gedruckt - dieses Mal mit dem richtigen Datum und der Aufschrift versehen: „Frieden, Wohlstand und Freundschaft mit allen Nationen. 31. Januar 2020.“ Die Glocken des Big Benn oder aller anderen Kirchen im Land – eine Idee von Boris Johnson – werden heute dagegen nicht läuten.
Nach vielen Stunden der Verhandlungen, der Verzweiflung und des Streits über den Brexit ist es jetzt an der Zeit, die fast ein halbes Jahrhundert währende Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union zu bilanzieren und zu würdigen. Was hat die EU Großbritannien zu verdanken?
Auf die Frage „Wofür würden Sie sich beim Vereinigten Königreich angesichts seiner Zeit in der EU bedanken?“ betont Prof. Piers Ludlow, Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science zwei zentrale politische Entwicklungen innerhalb der EU, auf die Großbritannien einen wesentlichen Einfluss gehabt hat: den Europäischen Binnenmarkt und die (Ost-)Erweiterungspolitik.
Die Entwicklung des Europäischen Binnenmarkts
Der europäische Binnenmarkt stand seit den 1980er Jahren ganz oben auf der politischen Agenda des Vereinigten Königreichs. Er war überhaupt ein zentraler Grund für die britische Mitgliedschaft in der Gemeinschaft. Das Land hatte seitjeher ein vorwiegend ökonomisches Interesse an der Europäischen Gemeinschaft (EG). Mit der konsequenten Schaffung des europäischen Binnenmarkts versprach es sich die wirtschaftliche Liberalisierung der EG sowie die Abschaffung von innereuropäischen Handelszöllen. Diese Priorität ließ Großbritannien immer wieder im Rahmen von Deals in anderen sensiblen politischen Bereichen Kompromisse eingehen, bis an die Schmerzgrenzen, um die Entwicklung des Binnenmarkts voranzutreiben. Seit 1993 ist der Europäische Binnenmarkt die weltweit größte Handelszone: Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung erhöht der Binnenmarkt die Einkommen von EU-Bürger/innen um jährlich etwa 840 EUR pro Person. Das Vereinigte Königreich war dafür eine der treibenden Kräfte.
Europäische Erweiterungspolitik versus politische Integration
Dr. Julie Smith, Direktorin des Europäischen Zentrums an der Universität Cambridge, betont die treibende Rolle des Vereinigten Königreichs in der Erweiterungspolitik, auch wenn sie das dahinterstehende politische Interesse kritisch betrachtet. Auf der einen Seite war das Königreich ein Verfechter der liberalen Demokratie: „Wenn die EU gut für uns ist, warum sollte sie dann nicht auch gut für andere Länder sein?“, erklärt Smith. Die EU wurde im geopolitischen Sinne als Chance und als transformative Kraft gesehen, die die Region in ihren westlichen Werten stabilisieren könne.
Auf der anderen Seite verfolgte Großbritannien mit seiner Politik auch ein eigenes politisches Kalkül: Das Königreich fürchtete nichts mehr als eine weitere politische Integration und eine Stärkung der europäischen Institutionen wie etwa der Europäischen Kommission oder des Europäischen Parlaments, die die Souveränität der Mitgliedstaaten und damit die Macht der Westminster-Regierung infrage stellen könnte. Der horizontale Integrationsschritt der Ost-Erweiterung war für das Vereinigte Königreich deshalb auch ein strategisches Mittel, um einen weiteren großen vertikalen, politischen Integrationsschritt der EU zu verhindern: ein doppelter Gewinn.
Eine durchwachsene Bilanz in der Umweltpolitik
Auch in der Umweltpolitik ist die britische Mitgliedschaft in der EU zu spüren – obwohl das Land vor einer Zunahme der europäischen Gesetzgebung zurückschreckte. „Die Briten waren nie die grünsten Politiker/innen in der EU. Ihre Wirkung ist durchwachsen“, so Ludlow. Dennoch war Großbritannien in den ersten Jahren der Mitgliedschaft, Ende der 1970er Jahre maßgeblich an den ersten europäischen Umweltrichtlinien, etwa für sauberes Wasser in Europa oder der Habitat Richtlinie zur Schutz der Artenvielfalt beteiligt. Ironischerweise wurden diese Entwicklungen entscheidend von dem Konservativen Politiker Stanley Johnson geprägt, dem Vater des heutigen Premierministers Boris Johnson.
Danach waren kaum klimapolitische Impulse von Großbritannien ausgegangen. In den letzten Jahren dagegen hat sich das Land wieder verstärkt für Klimapolitik eingesetzt, zum Beispiel in der Energiewende und der Reformierung der Gemeinsamen Agrarpolitik. Die europäische Agrarpolitik stellt auch eines der zentralen Themen dar, bei welchem britische Umweltverbände den Brexit als Chance für eine transformative Umweltpolitik in Großbritannien sehen. Im Gegensatz dazu wird Frankreich zukünftig im Europäischen Parlament auf den treuen britischen Partner und Befürworter der Atomkraftenergie verzichten müssen. Diese Verschiebung könnte für die EU eine Chance sein, sich nachhaltiger mit der Energiewende und dem Abschied von der Atomenergie zu befassen.
Engagement für Frauenrechte und Antidiskriminierung
Im Kampf um Geschlechtergerechtigkeit und Antidiskriminierung stellte sich das Vereinigte Königreich als eines der progressiven europäischen Mitgliedsstaaten heraus. Das britische Gleichstellungsgesetz geht noch über die Anforderungen der Europäischen Union hinaus. Viele dieser Initiativen wurden weniger von den britischen Delegationen im Europäischen Parlament als von einzelnen britischen Europapolitiker/innen und der britischen Zivilgesellschaft vorangetrieben.
Während die ersten britischen Delegationen in den 1970er Jahren im Europäischen Parlament mehrheitlich sogar gegen Mutterschaftsrechte für weibliche Angestellte stimmten, kämpfte die Labour-Abgeordnete Gwyneth Dunwoody in der gleichen Legislaturperiode in Straßburg für Frauenrechte in der EG. Vor allem aber der juristische Kampf von britischen zivilgesellschaftlichen Aktivist/innen gegen die Diskriminierung und Ungleichheit von Frauen* und lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intersexuellen Menschen durch das Fallrecht vor dem EUGH trieb die europäische Gesetzgebung im Bereich der Antidiskriminierung und Geschlechtergerechtigkeit erheblich voran.
Die Europäische Union ohne das Vereinigte Königreich
Zu einfach wäre es zu glauben, dass die Entscheidungsfindung in der Europäischen Union ohne das Vereinigte Königreich generell einfacher werden würde. Sicherlich mag es in manchen Bereichen, in welchen das Königreich eine starke bremsende Kraft ausgeübt hat, leichter vorangehen können, etwa in der Finanzpolitik, der Vertiefung der Eurozone oder in der gemeinsamen Verteidigungspolitik. Doch droht durch den britischen Austritt in der Verteidigungspolitik, aber auch in der Handelspolitik ein Bedeutungsverlust der EU. Hier ist es für die EU umso wichtiger, mit Großbritannien enge Bündnisse zu schließen. Generell könnte die Konsensfindung innerhalb der europäischen Institutionen aber sogar schwieriger werden, so Smith, denn viele Mitgliedsstaaten konnten sich hinter der oppositionellen Meinung und der bremsenden Rolle des Vereinigten Königreiches in EU-Gesetzgebungsprozessen verstecken. Während der Brexit-Verhandlungen habe die EU mit dem Königreich als einheitlicher Akteur und mit einer Stimme verhandelt. Jetzt, wo die Brit/innen gegangen sind, werden sich die Mitgliedsstaaten neu positionieren müssen.
Doch der Brexit ist nicht das Ende der Geschichte. Mit dem Austritt aus der Europäischen Union wird ein neues Kapitel der britisch-europäischen Beziehungen aufgeschlagen. So resümiert Ludlow: „Der Brexit ist wie ein jugendlicher, wütender Teenager: Er stürmt wutentbrannt aus dem Haus seiner Eltern und übernachtet dann in der Gartenhütte draußen im Garten.“
In diesem Sinne: Auf ein Wiedersehen, Großbritannien!