Die Kurden stehen alleine da

Analyse

Was immer die Kurden angesichts der türkischen Offensive in Syrien tun: Eine wirkliche Wahl haben sie nicht mehr. Sie sind der Türkei und dem Regime ausgeliefert.

Nordsyrien Konflikt Kurden/ Bild: Demonstration gegen den Krieg in Syrien

Die Militäroffensive der Türkei in Nordostsyrien hat begonnen. Den Weg dazu hat US-Präsident Donald Trump mit seiner jähen Ankündigung geebnet, die USA würden sich nicht für ihre Verbündeten im Kampf gegen den "Islamischen Staat" engagieren, die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) also alleinlassen und sich zurückziehen. Nach internationalen Warnungen und starkem Widerstand selbst im republikanischen Lager schränkte Trump ein, eine türkische Offensive sei eine "sehr schlechte Idee", und warnte, er werde die türkische Wirtschaft "vernichten". Dass die Türkei trotzdem mit dem Angriff begann, zeigt, wie sehr der Wankelmut der US-Regierung dazu geführt hat, dass die USA weder als Verbündeter noch als abschreckende Kraft ernst genommen werden.

Welche Optionen haben die syrischen Kurden in dieser verfahrenen Situation? "Eine Möglichkeit wäre, dass sie ein Abkommen mit dem Regime schließen", sagt Ferhad Ahma, Direktor der Organisation PEL - Civil Waves, die in den kurdischen Gebieten Syriens Bildungs- und Jugendprojekte unterstützt. "Gleichzeitig gibt es auch die Idee, gegen die türkische Offensive mit aller Macht zu kämpfen. Nur gute Optionen gibt es nicht." Der russische Außenminister Sergej Lawrow unterstrich in einer Pressekonferenz am Dienstag, eine Übereinkunft zwischen dem Regime und den Kurden wäre Russlands Präferenz. Alle Sicherheitsfragen die türkisch-syrische Grenze betreffend, sagte Lawrow, müssten in einem Dialog zwischen dem Regime und den "kurdischen Gemeinschaften, die diese Gegenden traditionell bewohnen", geklärt werden. Beide befänden sich auch bereits in einem Dialog. Doch was würde dort verhandelt?

Die Alternative sind Bomben

Russland selbst sei nicht interessiert daran, eine Position zu beziehen, sondern trete lediglich als Vermittler auf, sagt Ahma. Angeblich habe Lawrow das in einem Gespräch mit Masud Barzani, dem Anführer der kurdischen KDP und ehemaligen Präsidenten der autonomen Region Kurdistan im Irak, thematisiert. "Demzufolge würde es darauf hinauslaufen, dass Russland zwar keinen militärischen Schutz für die Kurden in Syrien gewähren möchte, sich aber dafür einsetzt, dass die Rückübernahme der von Kurden kontrollierten Gebiete an das Regime friedlich vonstattenginge."

Ob Genfer Prozess oder lokale Verhandlungen in anderen Gebieten Syriens, das Regime hat sich an keinem Punkt kompromissbereit gezeigt. So verhält es sich auch in dem Austausch zwischen SDF und dem Regime. "Das Regime hat alle Vorschläge abgelehnt, die kurdische Vertreter gemacht haben – selbst die, die nicht in Konflikt mit der syrischen Verfassung stehen, wie zum Beispiel Lokalverwaltungen", sagt Ahma. Während den Kurden eine Autonomie innerhalb Syriens vorschwebt, ist das Regime allenfalls bereit, auf die Situation von vor 2011 zurückzugehen. Angeblich hat der höchstrangige Geheimdienstchef Ali Mamlouk kurdische Vertreter sogar auf eine Tour in die vollständig zerbombten Städte Duma und Darayya mitgenommen. Die Botschaft: "Das ist die Alternative."

Auch die Beziehungen zwischen den syrischen und irakischen politischen Kräften Kurdistans gestalten sich schwierig. Zwar haben die irakisch-kurdischen Peschmerga die syrischen Kurden im Kampf gegen den IS unterstützt und Hunderttausende von Flüchtlingen aus Syrien aufgenommen. Was jetzt vonnöten wäre, können sie allerdings nicht selbst leisten: "Was die Kurden brauchen, ist, dass der Luftraum über ihren Territorien gesperrt wird, und internationalen Druck auf die Regierung der Türkei, um sie von einer Intervention abzuhalten – keines davon kann Barzani ihnen bieten", sagt ein kurdischer Journalist, der nicht namentlich genannt werden will. "Deswegen können die syrischen Kurden nicht von einer Annäherung an Barzani profitieren." Darüber hinaus unterhält Barzani gute Beziehungen nach Ankara.

Militärisch und politisch angreifbar

Selbst wenn die Türkei ihre Offensive zunächst auf kleinere Gebiete beschränken sollte: Der Schaden für die Kurden, die SDF und letztlich die gesamte Bevölkerung, die in den von ihnen kontrollierten Gebieten lebt, ist mit der Rückzugsäußerung Trumps bereits angerichtet und nicht wieder gutzumachen. Die Drohung hat viele Kurden in Hassak und Kamischli in die Flucht getrieben – und das in einer der wenigen Regionen, die weitgehend von Krieg und Zerstörung verschont geblieben sind.

Solange die USA die SDF unterstützten, war klar, dass sowohl die Türkei als auch das Regime sich zurückhalten würden. Bar eines mächtigen Partners stehen die Kurden jedoch im wahrsten Sinne des Wortes allein da. Das schwächt ihre Verhandlungsposition und macht sie militärisch wie politisch angreifbar. Kaum zog die SDF in Vorbereitung auf den türkischen Einmarsch Truppen in Richtung Grenze, verübten IS-Kämpfer in Rakka einen Anschlag und umstellten einen Stützpunkt lokaler Sicherheitskräfte.

Für Assad fügt es sich prächtig

Das Verhältnis zwischen dem syrischen Regime und den Kurden war jahrzehntelang von Spannungen geprägt. Während das Assad-Regime Hunderttausenden von Kurden die syrische Staatsbürgerschaft verweigerte und ihnen keinerlei Rechte einräumte – nicht auf eine eigene Identität in der Syrischen Arabischen Republik, nicht auf ihre Sprache und Kultur – und den Ressourcenreichtum des Nordostens zugunsten seiner Kernregionen abschöpfte, unterhielt Baschar al-Assads Vater und Vorgänger besondere Beziehungen zum syrischen Arm der PKK. Sie war ihm nützlich für eine Politik der Nadelstiche gegen die Türkei, die erst 1998 im Abkommen von Adana beendet wurde. Und zwar nachdem die Türkei ihren Forderungen Gewicht verlieh, indem sie mit einem Einmarsch drohte, sollte Assad den PKK-Anführer Abdullah Öcalan weiter beherbergen.

Auch Baschar al-Assads Ankündigung von 2011, Kurden die Staatsbürgerschaft zu verleihen, war nicht davon motiviert, dass er ein Herz für Minderheiten entwickelte oder gar ein Verständnis dafür, dass ihnen Rechte zustehen. Umgesetzt wurde sie kaum ansatzweise, denn es war klar, dass das Regime nur nach einer Möglichkeit suchte, die sich ausdünnenden Ränge seines Militärs mit neuen Rekruten aufzufüllen. Außerdem war das Ziel, wenigstens einen Landesteil so weit zum Stillhalten zu bewegen, dass seine Truppen sich von dort zurückziehen konnten, um den Krieg in anderen Landesteilen zu führen.

Ein zwiespältiges Verhältnis zwischen Kurden und Arabern zum Aufstand speiste sich unter anderem daraus, dass die Kurden sich von der arabischen Opposition 2003 im Stich gelassen fühlten, als das Regime gewaltsam gegen Kurden vorging. Es gab Kräfte, die sich dem Aufstand anschlossen, so zum Beispiel die "Zukunftsbewegung" von Meshal Temmo, der im Oktober 2011 ermordet wurde. Insgesamt manövrierten die Kurden in Syrien nach 2011 aber sehr vorsichtig, um es sich weder mit den Rebellen noch mit dem Regime zu verderben.

Assad kann warten und nehmen, was die Kurden nicht halten können

Doch Konzilianz ist dem syrischen Regime nicht genug – es fordert uneingeschränkte Loyalität und Unterstützung. Nur so ist auch zu erklären, dass es sich im Vorfeld der Offensive in Schweigen hüllte. Vollmundig bekundete das Regime zuvor immer wieder, es werde "jeden Zentimeter syrischen Bodens" wiedererobern, und pochte auf seine Souveränität. Doch ausgerechnet bei einer angekündigten Militäraktion, bei der der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Karten schwenkte, die demonstrieren, dass es ihm darum geht, entlang der gemeinsamen Grenze eine 30 Kilometer tiefe "Sicherheitszone" auf syrischem Territorium zu schaffen, war aus Damaskus wenig zu hören.

Denn für Assad fügt es sich prächtig: Unsicherheit, die Angst vor "den anderen", ist ein Herrschaftsinstrument in Damaskus, und der türkische Einmarsch trägt maßgeblich zur Unsicherheit bei. In der jetzigen Situation muss Assad nicht mehr mit den Kurden verhandeln, sondern kann einfach abwarten und von ihnen nehmen, was sie nicht halten können. Sind SDF-Truppen im Norden gebunden, könnte das dem Regime den Zugriff auf die ölreichen Territorien in Rakka und Deir ez-Zor ermöglichen, nach denen das Regime trachtet.

Eine Schwächung insbesondere der Kurden, die in ihren Gebieten Verwaltungsstrukturen schufen – autoritär geführt, aber eine Alternative zum Regime – und die sich aufgrund ihrer Rolle im Kampf gegen den IS internationales Ansehen verdienten, ist ganz in Assads Sinn. Das, ebenso wie Klarheit darüber, dass die USA sich nicht für die Kurden in die Bresche werfen werden, macht es für Assad unnötig, den Kurden entgegenzukommen.

Was immer die Kurden tun: Eine wirkliche Wahl haben sie nicht mehr. Sie sind auf Wohl und Wehe der Türkei und dem syrischen Regime ausgeliefert.

Dieser Beitrag wurde zuerst auf ZEIT ONLINE veröffentlicht.