Macht die Schule Kinder krank?

Leistungserwartungen von Eltern auf der einen Seite, eigene Versagensängste auf der anderen. Ein psychoanalytischer Blick auf die Befindlichkeit des Schulkindes. Zeit für einen verantwortungsvollen Umgang mit ihr.

Kuscheltier mit einem Verband an Kopf und Arm

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Schule und Zivilgesellschaft.

Meine Antwort auf die Titelfrage lautet lakonisch: Schule macht Kinder nicht ursächlich krank. So viel Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit eines Menschen hat eine Institution wie die Schule allein sicher nicht.

Dennoch birgt sie eine erhebliche Anzahl von Risiken in sich, die zumindest krankheitsfördernd und/oder krankheitsauslösend sein können, wobei nach psychoanalytischem Verständnis Krankheit immer Ausdruck einer psychischen bzw. körperlichen Störung ist, die sich in einem Symptom ausdrückt. Störungen treten dann auf, wenn psychische Konflikte, die weitgehend unbewusst sind, nicht hinreichend befriedigend gelöst werden konnten.

Nun gehören innere und äußere Konflikte zum Leben eines jeden Menschen, oder anders gesagt, ohne Konflikte ist Leben nicht denkbar. Ich beziehe mich im Weiteren auf die sog. Grundkonflikte, die alle Menschen im Laufe ihres Lebens zu bewältigen haben, solche zwischen Abhängigkeit und Autonomie, zwischen Anpassung bzw. Gehorsam und Kontrolle oder Dominanz, oder zwischen Macht und Ohnmacht und zwischen Idealisierung und Entwertung – Konflikte, die aus dem frühen biographisch-psychogenetischen Erleben und aus den frühkindlichen Beziehungserfahrungen rühren.

Als unbewältigt gelten Konflikte dann, wenn das Kind im Laufe seiner frühen Entwicklungszeit für sich keinen Weg gefunden hat, wie es diese Strebungen, die aus den gegensätzlichen Wünschen und Ansprüchen erwachsen und von denen es sich zunehmend bedrängt fühlt, in einen erträglichen Ausgleich bringen kann.

Konflikte und Beziehungen

Ob ein Kind für die Bewältigung seiner Konflikte eine Lösung findet, ist ebenso wie die Art der Lösung wesentlich davon abhängig, welches Verständnis und welches Verstehen das Kind in seinen frühen Beziehungen erfahren hat. Die Arbeit an und mit Konflikten ist immer verbunden mit schwer erträglichen Gefühlen – vor allem mit Ängsten – vor möglichen Konsequenzen.

In der frühen Kindheit sind es vor allem die Ängste vor Strafen, dann, wenn das Kind etwas tun möchte oder tut, was es nicht darf oder was es sich nicht zu tun traut. In der weiteren Entwicklung wird die Angst zunehmend verinnerlicht. Sie äußert sich in schlechtem Gewissen, in der Angst zu versagen oder zu enttäuschen bzw. enttäuscht zu werden, in Befürchtungen, die umso mehr aus dem Bewusstsein verdrängt werden müssen, je unerträglicher sie erscheinen.

Die Verarbeitung dieser Konflikte kann die Entwicklung des Kindes fördern, wenn es dabei hinreichend gute, verstehende Beziehungserfahrungen macht. Es wird dann eher psychisch beweglich und in der Lage sein, auf schwierige innere und äußere Lebenssituationen angemessen, d.h. auch für die Menschen im eigenen Umfeld nachvollziehbar zu reagieren.

Schutzmechanismen gegen Ängste

In diesem Prozess kann die Entwicklung des Kindes aber ebenso blockiert werden, z.B. wenn sich das Kind von den Menschen, von denen es abhängig ist oder sich abhängig erlebt, nicht verstanden und gehalten fühlt, und es wird seine psychischen Mechanismen nutzen, d.h. es wird sich eine Lösung suchen, damit es die Ängste umgehen kann.

Ein Schutzmechanismus gegen Ängste ist die Verdrängung des angstauslösenden Problems. Er führt zunächst zu einer Entlastung von der Angst, nicht aber dazu, dass der eigentliche Konflikt „verschwindet“. Die „Lösung“ liegt darin, dass es in einem Symptom verschlüsselt wird und darin weiterbesteht, z.B. in Verhaltensauffälligkeiten, die den „Vorzug“ haben, dass sie als „kleineres Übel“ von dem eigentlichen Problem ablenken, und dann häufig auf der „Macht-Ohnmacht-Bühne“, im Außen, inszeniert werden.

Grundsätzlich sind Symptome eine individuelle, kreative Leistung, die für eine Not eine Lösung bieten. Allerdings haben sie die Einschränkung, dass nun zwar das Kind einen geringeren Leidensdruck hat, dafür aber eher die Menschen seiner Umgebung, so auch und häufig in der Schule. Weil sich aber die Not verschlüsselt zeigt, erfährt das Kind abermals, dass es darin nicht verstanden wird.

Das führt dazu, dass es umso mehr am Symptom festhalten muss. Und somit entsteht ein circulus vitiosus; denn je mehr es an seiner „Lösung“ festhält, umso mehr befürchtet es, in seiner Not wieder allein zu sein.

Verantwortung der Schule

Ich komme nun zu meiner anfänglichen These zurück, dass die Schule, wenn sie auch nicht ursächlich krank macht, so doch ein Ort ist, der in erheblicher Weise dazu beiträgt, dass Kinder und Jugendliche psychisch schwer belastet werden und dass dadurch Störungen ausgelöst und manifest werden können, die „Krankheitswert“ haben.

Das hängt zum einen damit zusammen, dass Kinder und Jugendliche vom 6. bis zum 16. Lebensjahr neben der Familie die meiste Zeit ihres Lebens in der Schule verbringen. Diese Jahre sind für die weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung, weil neben der Familie die Schule der Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche Selbst- und Beziehungserfahrungen machen, die für ihr weiteres Leben prägend sind.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine besondere Verantwortung für die Schule, weil sie von ihrem gesellschaftlichen Auftrag und von ihrem Selbstverständnis her an die sog. Grundkonflikte rührt, deren Lösungen natürlich noch nicht hinreichend verlässlich sind. Denn solange die körperliche und psychische Entwicklung nicht abgeschlossen ist, befinden sich Kinder und Jugendliche in einer besonders empfindlichen Such- und Probierphase.

Ich möchte diese These im Folgenden an einigen grundsätzlichen Gedanken über den Lernbetrieb Schule erläutern und dann an einem klinischen Beispiel verdeutlichen.

Zunächst: Die Schulpflicht für jedes Kind und dessen Eltern rührt in unterschiedlicher Weise an den Grundkonflikt zwischen dem Streben nach Autonomie und Abhängigkeit. Im Lernbetrieb „Schule“ begegnen sich Schüler/innen und Lehrkräfte in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Wünsche und Vorstellungen, die wesentlich beeinflusst sind durch gesellschaftliche und staatliche Instanzen und deren Forderungen.

Diese Forderungen haben entscheidenden Einfluss auf die Vorstellungen von Lehrkräften hinsichtlich ihrer Erwartungen an sich selbst und an ihre Arbeit, und ebenso an diejenige von Schüler/innen bezüglich ihrer Leistungen und sozialen Rolle; und sie prägen die Erwartungen und Ansprüche von Eltern an ihre Kinder und an die Schule.

Die PISA-Dynamik

Vor diesem Hintergrund hat die öffentliche Diskussion um PISA zu einer Dynamik beigetragen, in der sich hinsichtlich der individuellen Lebens- und Zukunftsplanung die Ich-Idealvorstellungen massiv verstärkt haben, und entsprechend hat die Angst zugenommen, diesen Ansprüchen nicht genügen zu können und daher gesellschaftlich nicht erfolgreich zu sein.

Eltern, die befürchten, ihre Kinder könnten in der Schule versagen, befürchten auch, dadurch als Eltern versagt zu haben. Sie geben ihre Idealvorstellungen und Versagensängste bewusst oder unbewusst an ihre Kinder weiter, z.B. die Befürchtung, das Kind könnte keine Gymnasialempfehlung bekommen, die an den Grundkonflikt „Idealisierung – Entwertung“ rührt und tiefe Versagens- und Enttäuschungsängste auslösen kann.

Weil sich Kinder mit den Erwartungen und Ängsten ihrer Eltern identifizieren und damit angepasst oder widerständig umgehen, kann diese Dynamik zu einer depressiven Symptomatik führen, z.B. zu sozialem und innerem Rückzug – eine häufige Reaktion von Mädchen, während Jungen eher dazu neigen, ihre inneren Konflikte zu agieren, die sich dann in aufsässigem, manifest aggressivem, störendem Verhalten äußern können.

Dazu ein klinisches Beispiel: A., so nenne ich das Mädchen im Folgenden, war acht Jahre alt und ging in die dritte Klasse, als sie zur Therapie angemeldet wurde. Ihre Leistungen waren nicht so gut, wie sie es selbst von sich erwartete, und sie befürchtete, nicht aufs Gymnasium zu kommen, wie ihre Lehrerin es hin und wieder sagte, wenn sie sich im Unterricht nicht beteiligte.

A. hatte in der Klasse keine Freundinnen. Die Eltern berichteten, dass die Tochter sich sehr verändert habe, seit sie in die Schule gehe. Sie sei immer ein aufgewecktes, weitgehend problemloses Kind gewesen, das sich auf die Schule gefreut habe. Seit einiger Zeit wirke sie zunehmend unglücklich, reagiere hoch empfindlich und ziehe sich immer mehr von allen zurück.

Gelegentlich bekomme sie ohne ersichtlichen Grund heftige Wein- und Wutanfälle. Dann beschuldige sie sich selbst, und gelegentlich spreche sie davon, nicht mehr leben zu wollen. A. sagte dazu, sie glaube, dass keiner sie mag.

Zusammenhang von Leistungsanforderungen und Selbstwertgefühl

A. zeigte depressive Symptome, als sie zur Therapie kam, die drei Jahre dauerte. In Zusammenarbeit mit den Eltern konnte allmählich deutlich und zunehmend verstanden werden, dass die Leistungsanforderungen in der Schule, vor allem aber die Konkurrenzsituation mit den anderen Schülern bei A. erhebliche Zweifel hinsichtlich ihres Selbstwertgefühls ausgelöst hatten.

Insbesondere wurden Ängste verstärkt, sie könne nichts, sie sei nicht so gut wie die anderen und werde deswegen nicht gemocht. Diese Ängste waren ursächlich vor allem im Zusammenhang mit der Rivalität um den jüngeren Bruder und insbesondere mit der Beziehung zur Mutter zu sehen, von der sich A. nicht so anerkannt und geliebt fühlte, wie sie es im Vergleich zum kleinen Bruder erlebte.

Das führte dazu, dass sich A. einerseits immer mehr anstrengte, um den vermeintlichen Idealvorstellungen der Mutter zu entsprechen, und zugleich entwickelte sie einen trotzigen Widerstand gegen ihre Anpassungsbemühungen, sodass sie wie blockiert erschien und sich selbst schließlich von niemandem mehr in ihrer Not verstanden fühlte.

Die Symptome, die A. in ihrer und für ihre Not entwickelte, dienten dazu, die Wut und den Ärger über ihr Gefühl von Benachteiligung gegen sich selbst zu richten und nicht gegen andere, insbesondere nicht gegen die Eltern und den Bruder, weil sie befürchtete, dass sie mit ihrem aggressiven Verhalten dann nicht mehr gemocht werden könnte.

In der Schule und durch die dort zunehmend andrängenden Anforderungen konnte die einst „erfolgreiche“ Abwehr nicht mehr hinreichend halten. Das führte dazu, dass A. in ihrer Not, wenn auch nicht verstehbar, so doch zunehmend sichtbar wurde.

Nun ist Schule kein psychotherapeutischer Ort, und Psychotherapie gehört nicht zu den Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern. Dennoch stellt sich die Frage, was Schule oder besser, was Lehrkräfte tun können, damit sie auffälliges, störendes und befremdliches Verhalten von Kindern und Jugendlichen nicht nur in ihren manifesten Ausdrucksformen sehen und darauf reagieren, worin u.a. Rolf Haubl (2007)[1] einen wesentlichen Grund sieht, dass Schule zu einem pathogenen Ort werden kann.

Schule braucht Supervision

Einen Weg, um die Beziehungsdynamik besser verstehen zu können, mit der es Lehrerende und Lernende am Lernort Schule täglich zu tun haben, ist Supervision. Und eigentlich ist Schule ohne Supervision überhaupt nicht denkbar, wenn die verantwortlich Beteiligten den Anspruch haben, dass sie sich im Umgang mit Menschen „menschenwürdig“ verhalten wollen. Dieser Anspruch setzt voraus, das Beziehungsgeschehen in der Schule besser verstehen zu lernen, um dann angemessener handeln zu können.

Dafür bedarf es der Bereitschaft, den Schutzwall, der um Schule herum im Laufe der Zeit entstanden ist, durchlässiger zu machen für Veränderungen, oder den Latenzschutz lockern zu wollen, der in Institutionen grundsätzlich, in Schule aber im Besonderen darauf abzielt, sich vor Veränderungsbestrebungen dadurch zu schützen, dass kritische Punkte, die einen Veränderungsbedarf anzeigen, exkommuniziert werden, wie Haubl[1] es ausdrückt.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Schule und Zivilgesellschaft.

 

[1] Haubl, Rolf, (2007): Schule als pathogener Ort. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 4/2007, S. 259-276, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht).