Ukraine-Notizen: Ein Land im Umbruch

Kiev
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Blick auf den Dnepr in Kiev

Bei seiner Reise in die Ukraine erlebt Ralf Fücks ein Land in einer multiplen Krise. Die Regierung unter Präsident Poroschenko zögert überfällige Strukturreformen hinaus und hat inzwischen keine verlässliche Mehrheit mehr im Parlament. Gleichzeitig gilt es einer Million Flüchtenden von der Krim ein neues Zuhause zu geben. 

Kiew, 14. Februar 2016: Gespräch mit Abgeordneten aus der interfraktionellen Gruppe der „Eurooptimisten“ zur innenpolitischen Lage.  Der  spektakuläre Rücktritt des angesehenen Wirtschaftsminister Abromavicius aus Protest gegen die Sabotage der Reformpolitik aus dem Zentrum des Machtapparats hat die politische Krise in Kiew weiter angeheizt. Präsident Poroshenko steht am Scheideweg. In einem beispiellosen Brandbrief haben 11 westliche Botschafter eine zügige Fortsetzung der Reformpolitik gefordert. Gleichzeitig drohte IWF-Chefin Christine Lagarde die finanzielle Unterstützung des Landes einzustellen, falls die überfälligen Strukturreformen nicht zügig angegangen werden. Bislang lavierte Poroshenko zwischen Erneuerung und Restauration.  Dirigenten und Nutznießer des korruptiven Systems finden sich bis in die Präsidialadministration und den „Block Poroshenko“ im Parlament. Dazu gehört die Besetzung von Schlüsselpositionen in Staatsunternehmen mit loyalen Parteigängern, die im Gegenzug für großzügige Spenden dieser Unternehmen sorgen. Eine Zentralfigur dieses Systems ist der stellvertretende Vorsitzende der Poroshenko-Fraktion,  Kononenko, der von Abromavicius namentlich an den Pranger gestellt wurde.

Am 11. Februar veröffentlichten führende Köpfe aus der NGO- und Think-Tank-Szene einen offenen Brief, in dem sie vor einer wachsenden Vertrauenskrise zwischen Regierung und Gesellschaft warnen. Sie fordern eine Regierungsumbildung, die Entfernung aller Personen aus politischen Ämtern, die im Konflikt mit ihren wirtschaftlichen Interessen stehen, sowie eine Änderung des Wahlgesetzes als Voraussetzung für vorgezogene Neuwahlen. Der Ruf nach einem politisch-personellen Neuanfang wird breit geteilt. Die „grauen Kardinäle“, die Strippenzieher des korruptiven Systems, sollen gehen, um endlich den Weg für Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung freizumachen.

Präsident Poroshenko

Unter dem doppelten Druck der Zivilgesellschaft und der internationalen Institutionen kann Poroshenko die Krise nicht länger aussitzen. Eine Rundumerneuerung der Regierung steht ins Haus. Nach dem Auszug der Fraktion um Julia Timoschenko und einer weiteren Gruppierung aus der Regierungskoalition ist offen, ob es gelingt, eine regierungsfähige Mehrheit in der Rada zusammenzuhalten. Die Flucht in Neuwahlen wäre allerdings fragwürdig, solange das jetzige Wahlrecht nicht geändert ist, das der Manipulation von Wahllisten durch finanzstarke Lobbys Tür und Tor öffnet. Kurzfristige Neuwahlen würden eher zur einer Umverteilung innerhalb des bestehenden politischen Kartells als zur Erneuerung der politischen Klasse führen.

Als kritisches Korrektiv zur Politik braucht es unabhängige Medien. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Umwandlung der staatlichen Medien in einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.  Eine weitere Großbaustelle ist der Umbau der Justiz, die einen denkbar schlechten Ruf in der Bevölkerung genießt. Eine unabhängige, integere Justiz und ein neuer Ethos des Rechts sind unverzichtbarer Bestandteil eines demokratischen Systems von „checks & balances“.

Ein bemerkenswertes Detail ist die vergleichsweise hohe Popularität des ehemaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, der jetzt als Gouverneur in Odessa als Vorkämpfer gegen Korruption und Misswirtschaft auftritt. In Umfragen wird er regelmäßig als einer der potentiellen Nachfolger Jazeniuks genannt.  Bereits im jetzigen Kabinett amtieren Minister georgischer oder baltischer Herkunft gemeinsam mit Kollegen, die zwar in der Ukraine geboren wurden, aber lange in den USA gelebt haben. Es ist nicht gerade ein Zeichen für den vermeintlichen ukrainischen Nationalismus, dass in weiten Teilen der Öffentlichkeit die fachliche Qualifizierung von Ministern und hohen Beamten wichtiger ist als ihre Herkunft. 

Der Maidan-Platz: Die politische Auseinandersetzung findet heute wieder in Regierung und Parlament statt

Man kann in der multinationalen Zusammensetzung des Kabinetts eine Fortsetzung der Proteste auf dem Maidan sehen, an denen Menschen aus unterschiedlichen ehemaligen Sowjetrepubliken teilnahmen. Das ukrainische Experiment ist nicht nur von nationaler Bedeutung – es ist ein Schlüssel für die Zukunft des gesamten postsowjetischen Raums, nicht zuletzt für Russland selbst. Genau deshalb ist der demokratische Aufbruch der Ukraine den russischen Machthabern ein Dorn im Auge. Umgekehrt sollte die EU ein hohes Interesse am Erfolg dieses Experiments haben. Dazu gehören verbindliche Vereinbarungen mit der ukrainischen Regierung hinsichtlich rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Reformen. Wirken werden sie nur, wenn kein Zweifel an der Bereitschaft besteht, die Ukraine auf ihrem Weg nach Europa politisch und finanziell zu unterstützen.

Eine Million Geflüchtete

Die Ukraine ist in einer multiplen Krise, mit der verglichen Deutschland als Insel der Seligen wirkt. Offiziell sind 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge von der Krim und (vor allem) aus der Ostukraine registriert. Die OSCE schätzt die tatsächliche Zahl auf knapp eine Million. Auch das wäre eine dramatische Größenordnung für ein Land, das wirtschaftlich am Boden liegt. Die Geflüchteten haben alles zurückgelassen, was sie nicht mit sich tragen konnten. Sie erhalten nur minimale staatliche Unterstützung. Viele leben von ihren Ersparnissen, andere werden von Familienangehörigen oder von humanitären Organisationen über Wasser gehalten. Die wenigsten finden feste Jobs. Anfangs war die Solidarität mit den Geflüchteten sehr hoch, es gab viele Freiwilligeninitiativen, die Geld, Lebensmittel oder Kleidung sammelten. Inzwischen wächst die Konkurrenz zwischen den einheimischen Armen und den Neuankömmlingen: es geht um knappe Wohnungen, Sozialleistungen, Jobs. Die Hilfsgelder der EU stehen nur für die östlichen Regionen zu Verfügung – für Flüchtlinge in der Zentral- und Westukraine gibt es keine internationale Unterstützung.  Viele sind aufgrund ihrer Gewalterfahrungen traumatisiert, insbesondere Kinder und Jugendliche, die Tod und Zerstörung erlebt haben. Die Zentralregierung in Kiew ist mit der Situation überfordert, es fehlt an Ressourcen und Know How, aber auch an einem Konzept zur Verknüpfung internationaler, staatlicher und nichtstaatlicher Hilfe.  
Was könnte die EU tun? Ausweitung der Hilfszahlungen auf Flüchtlinge im ganzen Land / Spezielle Programme zur beruflichen Qualifizierung und Eingliederung / Bereitstellung von Geldern und ExpertInnen für psychosoziale Betreuung / Vergabe von Mikrokrediten für Flüchtlinge, die sich selbständig machen wollen / Förderung des Wohnungsbaus in den Ballungszentren.

Ein spezielles Problem ist die Vernachlässigung der östlichen Frontregionen durch „Kiew“: Gehälter für Krankenhauspersonal werden nicht oder nur unregelmäßig bezahlt, zerstörte Schulen, Straßen und Brücken nicht repariert,  die örtlichen Gemeinden mit den zahlreichen Flüchtlingen alleingelassen.  Woran liegt das? An einer Mischung aus Inkompetenz und Bürokratismus, aber auch an fehlender Empathie der Zentralregierung für die östlichen Regionen. Die Menschen dort stehen im Ruf von unsicheren Kantonisten. Noch stärker gilt das für die verbliebene Bevölkerung in den besetzten Gebieten.  Über das Ausmaß der humanitären Notlage dort kann man nur spekulieren. Viele Ärzte, Krankenschwestern, Lehrerinnen sind geflohen,  ukrainische und internationale Hilfsorganisationen mussten ihre Arbeit einstellen, Lebensmittel haben sich rasant verteuert, manche Medikamente werden knapp, zahlreiche Betriebe sind zerstört, die Arbeitslosigkeit ist hoch. In Kiew treffe man immer wieder auf die Haltung „Weshalb sollten wir Leuten helfen, die auf unsere Kinder schießen?“.  Die Spekulation auf den Zusammenbruch der Separatisten-Republiken gehe nicht auf: Für die russische Führung steht zu viel auf dem Spiel, um ihre Stellvertreter im Donbas fallenzulassen und sich sang- und klanglos zurückzuziehen. Also werden die Vasallenrepubliken von Moskau notdürftig am Leben gehalten. Diese finanzielle Bürde würde man gern auf Kiew und die EU abwälzen, ohne die politische Kontrolle über den Donbas aufzugeben.

Vertrauenskrise

Die politische Krise in der Ukraine eskaliert. Das ohnehin nie besonders ausgeprägte Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Institutionen (Regierung, Parteien, Verwaltung) ist auf dem Nullpunkt, die Unzufriedenheit wächst. Die Mehrheit ist immer noch opferbereit, will aber endlich Verbesserungen sehen: im Kampf gegen die Korruption, im Abbau der Bürokratie, bei der Justizreform, der Modernisierung der Verwaltung. Der Lebensstandard ist in den letzten beiden Jahren auf breiter Front gesunken, die Preise steigen, die Wirtschaft kommt nicht auf die Beine,  die Annäherung an Europa stagniert. Viele Leute verlieren die Geduld – und noch schlimmer, das Zutrauen in eine bessere Zukunft.

Gleichzeitig ist die 4-Parteien-Regierungskoalition in sich zerstritten, der Regierung mangelt es an Tatkraft und dem politischen Willen, die nötigen Reformen voranzutreiben. Das gilt insbesondere für Premierminister Jazeniuk, der vor zwei Jahren noch hochgewählt wurde und inzwischen jeden Rückhalt in der Bevölkerung verloren hat. Dennoch klammert er mit aller Macht an seinem Amt und droht, mit seiner Partei die Koalition zu verlassen und damit Neuwahlen zu erzwingen, falls er vom Parlament gestürzt wird. Vor vorgezogenen Neuwahlen schrecken aber auch vernünftige Geister zurück:  in der jetzigen Lage würden sie das Land über Monate lähmen, am Ende nur zu einer Umgruppierung unter den alten politischen Kräften führen und den Oligarchen die Gelegenheit geben, ihren Einfluss auszubauen. 

Politik als Geschäft

Ein Grundübel des politischen Systems ist die weit verbreitete Verquickung zwischen Politik und Business. Ein Großteil der Abgeordneten (die meisten kommen noch aus dem alten Regime) und auch ein Teil der Regierung nutzt ihr politisches Mandat als Mittel, um Geschäfte zu machen. Sie sind an Unternehmen beteiligt oder werden als Lobbyisten bezahlt, sie kassieren Provision für die Vermittlung öffentlicher Aufträge, sie platzieren Gefolgsleute in Staatsunternehmen und erwarten im Gegenzug Spenden für ihre Partei oder persönliche Gefälligkeiten. Parlamentsmandate und Ministerportfolios gelten als lukrative Pfründe. Diese Haltung wird durch die lächerlich geringe Abgeordnetendiät von 200 Dollar gefördert. Sie lädt geradezu zu allerlei „Nebentätigkeiten“ ein. Die Zahl derjenigen, die Politik aus originär politischen Motiven betreiben, also bestimmten Werten und programmatischen Zielen verpflichtet sind, ist überschaubar.  Parteien sind in erster Linie Seilschaften von Politikunternehmern. Diese Krankheit teilt die Ukraine mit vielen postkommunistischen Staaten. Das ist allerdings kein Trost in einer Situation, in der das Land auf der Kippe steht.

Was tun? Es braucht vor allem zwei Gegengifte: Zum einen ein System von Checks & Balances, vorneweg unabhängige Medien, eine unabhängige Justiz und eine kritischen Zivilgesellschaft. Hier ist der springende Punkt die Justizreform, die dringend auf den Weg gebracht werden muss, angefangen mit einem neuen Generalstaatsanwalt.  Am wenigsten Sorgen muss man sich um die ukrainische Zivilgesellschaft machen: sie ist nach wie vor hoch aktiv und übernimmt Verantwortung, wo der Staat versagt. Gleichzeitig sind die inneren Reformkräfte dringend auf äußere Unterstützung angewiesen. EU und IWF müssen mit der ukrainischen Regierung einen präzisen Reformfahrplan verhandeln, an dessen Umsetzung die Finanzhilfen der internationalen Gemeinschaft gekoppelt werden.  Ist das Bevormundung? Nein. Es ist das Angebot für einen Reformpakt, der die Ukraine auf ihrem mühsamen Weg zu einem modernen, europäischen Staat unterstützt.  Europa muss endlich aus seiner Lethargie aufwachen und Verantwortung für seine  östliche Nachbarschaft übernehmen. Die ukrainische Gesellschaft ist dafür bereit.

Vertrauensabstimmung im Parlament – Drama oder Farce?

Kiev, 16. Februar 2016: Es war spannend wie ein Politkrimi. im Laufe des Tages jagten sich die Informationen und Gerüchte in Kiew. Das politische Überleben des Premierministers und seines Kabinetts hing am seidenen Faden. Teile der eigenen Regierungskoalition waren zur offenen Rebellion übergegangen. Dabei traf sich die Kritik an verschleppten Reformen mit dem Frust über den arroganten Umgang Jazeniuks mit dem Parlament. Manche jüngere Abgeordnete  sahen sogar die Stunde der Emanzipation des Parlaments gegenüber der Exekutive gekommen. Sie wollten demonstrieren, dass die Rada kein „Abnickverein“ ist, der lediglich die Beschlüsse des Kabinetts absegnet. Andere Fraktionen spekulierten darauf, dass sie bei Neuwahlen aus der verbreiteten Unzufriedenheit mit der Regierung politisches Kapital schlagen könnten.  Am Nachmittag ging dann Präsident Poroshenko halb aus der Deckung. Er legte Generalstaatsanwalt Shokin, der seit Monaten massiv unter Beschuss stand, öffentlich den Rücktritt nahe. Kurz danach sprach er sich in einer gewundenen Pressemitteilung für eine Kabinettsumbildung aus.  Manche lasen daraus eine Aufforderung an Jazeniuk, das Feld zu räumen. Eindeutig war das aber nicht. Klar war nur, dass der Präsident Neuwahlen vermeiden wollte.  Man kann davon ausgehen, dass diese Position im Einklang mit den Empfehlungen der EU und der USA steht, die eine Periode der Instabilität und Handlungsunfähigkeit fürchteten. Wir trafen aber auch eine Reihe von Parlamentariern und Vertreter der Zivilgesellschaft, die diese Sorge teilten.

Das ukrainische Parlamentsgebäude in Kiew

Am Abend überschlugen sich die Ereignisse. Erst stimmte eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten gegen den Rechenschaftsbericht des Premierministers. Das war der Auftakt für die folgende Vertrauensabstimmung.  Wer den Sturz Jazeniuks für besiegelt hielt, wurde eines anderen belehrt. In der zweiten Abstimmung kehrten sich die Mehrheiten um. Sofort begannen die wildesten  Spekulationen und Interpretationen, wer ihm den Kopf gerettet hatte: War das Ganze nur eine Inszenierung Poroshenkos, um Dampf abzulassen, ein abgekartetes Spiel, bei dem genau ausgezählt worden war, wer wie abstimmen sollte?  War es die Fraktion des Präsidenten, die bei der Vertrauensfrage mehrheitlich für Jazeniuk stimmte,  um Neuwahlen zu vermeiden? Oder waren es Abgeordnete des „oppositionellen Blocks“, viele von ihnen ehemalige Janukowitsch-Gefolgsleute, die auf Geheiß prominenter Oligarchen den Premierminister gestützt hatten? Verfechter dieser These weisen darauf hin, dass Jazeniuk durchaus gute Beziehungen in diese Kreise unterhält und ihre Geschäftsinteressen berücksichtigt.

Intransparenz der Macht

Dass sowohl das eine wie das andere möglich sein könnte und niemand genau weiß, was gespielt wird, ist charakteristisch für das intransparente politische Gefüge der Ukraine.  Ständig hört man entgegengesetzte Versionen zum gleichen Thema. Es gibt eine politische Vorderbühne und eine Welt hinter den Kulissen. Für Außenstehende ist es kaum möglich, Gerüchte und Spekulationen von Tatsachen zu unterscheiden. Anders als In Russland haben wir es in der Ukraine nicht mit einem hoch zentralisierten Machtapparat zu tun, sondern mit einer Vielzahl von Akteuren, die mit oder ohne Mandat auf die Politik Einfluss nehmen. Wer welche Agenda verfolgt, ist von außen ebenso schwer zu beurteilen wie die Frage, wie stark der Zugriff einzelner Oligarchen auf Regierung und Parlament tatsächlich ist. Diese Intransparenz schürt das allgemeine Misstrauen und befördert den Wunsch nach einer „unpolitischen Politik“, einem Technokraten-Kabinett, das vermeintlich allein nach sachlichen Gesichtspunkten handelt.  Experten an die Macht – das erscheint als bessere Alternative zu einer „Politikerpolitik“, die nicht programmatischen Zielen, sondern undurchsichtigen Lobbyinteressen folgt.

Das Kernproblem liegt in der weit verbreiteten Verquickung von Mandat und Geschäft und im Fehlen von politischen Parteien, die diesen Namen verdient haben. Dieses Phänomen teilt die Ukraine mit anderen postkommunistischen Staaten, die irgendwo auf dem Weg der demokratischen Transformation stecken geblieben sind. Formal gesehen handelt es sich um parlamentarische Demokratien mit konkurrierenden Parteien, mehr oder weniger freien Wahlen, Regierung und Opposition, faktisch funktioniert die Politik aber nach anderen Regeln. 

Wo bleibt das Positive?

Was für die Ukraine hoffnungsvoll stimmt, sind die lebendige, selbstbewusste Zivilgesellschaft und die kritische Medienlandschaft. Zwar werden die Privatsender in der Regel von Oligarchen kontrolliert, aber auch dort herrscht pluralistischer Wettbewerb. Das staatliche Fernsehen wurde im letzten Jahr in einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk umgewandelt, das dem direkten Regierungszugriff entzogen ist,  und im Internet gibt es eine Vielzahl kritischer Stimmen. Auch im Parlament gibt es inzwischen eine neue Generation von Abgeordneten, die den Politikbetrieb aufmischen. Die Ukraine ist in Bewegung – das ist die positive Nachricht hinter all den Krisenerscheinungen.  Und es gibt reale Fortschritte, trotz aller Kritik. Ein Beispiel ist die Polizeireform. Das alte, noch aus der Sowjetunion stammende Milizsystem wurde inzwischen aufgelöst und in eine nationale Polizei umgewandelt. Das ist mehr als ein formaler Akt. Die personelle und technische Ausstattung der Polizei wurde verbessert, die Gehälter erhöht, ein neuer Verhaltenskodex eingeführt. Vor der Übernahme in die neue Organisation mussten sich alle Milizionäre einer Prüfung unterziehen. Dabei wurden in Kiew 71 Prozent der höheren Offiziere ausgemustert, bei den einfachen Beamten waren es etwa 15 Prozent. An der Reform waren bekannte Menschenrechtler ebenso beteiligt wie junge, demokratische Abgeordnete. Nächste Großbaustellen sind der Zoll, die Steuerverwaltung, die Justiz, das Agrarministerium sowie die Besetzung der Staatsbetriebe mit unabhängigen Fachleuten statt mit Parteigängern der Regierung - und das in einem Wettlauf mit der ökonomischen Krise und einem andauernden Krieg auf kleiner Flamme in der Ostukraine. Man sollte es sich mit Kritik an der Ukraine nicht zu leicht machen.

Vor allem aber darf die EU nicht auf den Zuschauerbänken verharren, sondern muss eine pro-aktive Rolle übernehmen. Weshalb ernennt der europäische Rat nicht einen erfahrenen Sonderbeauftragten für die Ukraine, der  kontinuierlich das Gespräch mit den politischen Eliten sucht und ein Paket aus finanziellen Hilfen und verbindlichen Reformen verhandelt?  Um die verfahrene Situation zum Besseren zu wenden, braucht es eine Kombination aus einheimischen Reformern und Druck von außen.

Ukraine

Sowjetische Vergangenheit, europäische Zukunft

Charkiv, 17. Februar 2016: Wer Gelegenheit dazu hat, sollte einmal nach Charkiv reisen – eine höchst lebendige Stadt an der Schnittstelle zwischen der russischen Welt und Europa. Architektonisch, ökonomisch, kulturell lagern sich viele historische Schichten übereinander, die bis heute den Charakter der Stadt prägen. Russisch ist selbstverständliche Alltagssprache. Der Bürgermeister, ein Machtmensch alter Schule mit vielfältigen Geschäftsverbindungen, hat zugleich den Ruf eines effizienten Machers.  Bisher hat er  erfolgreich verstanden, jeden Ansatz einer politischen Alternative auszumanövrieren. Dass er die regionalen Medien (insbesondere das Fernsehen) kontrolliert, gehört zum System.  Er wird vor allem von Menschen gewählt, die wenig Wert auf Transparenz und Bürgerbeteiligung, aber umso mehr auf staatliche Fürsorge legen.  Autoritätshörigkeit und die Erwartung, dass der Staat es richten soll, sind in der Ostukraine stärker verbreitet als in Kiew oder im Westen. Auch ist der Anteil der Menschen höher, die sich kulturell  eher an Russland als an Europa orientieren. Das heißt noch lange nicht, dass sie von einem Anschluss an Russland träumen. Sie wünschen sich aber offene Grenzen und gute Beziehungen.  Die tatsächliche Entwicklung geht jedoch in die entgegengesetzte Richtung: der Graben zu Russland wird immer tiefer, der wirtschaftliche Austausch tendiert gegen Null, die politischen Fronten sind verhärtet. Da die verbliebenen Großbetriebe in der Regel auf den europäischen Märkten nicht konkurrenzfähig sind, orientieren sie sich jetzt nach Asien und andere Entwicklungsländer. Dagegen schauen die kleineren, beweglicheren und moderneren Unternehmen vorrangig nach Europa. Sie repräsentieren das neue Charkiv, ebenso wie große Teile der akademischen Intelligenz und der lebendigen Kulturszene der Stadt. 

Folgt man dem politischen Experten der OSCE-Mission, besteht die entscheidende Kluft nicht zwischen westlich und östlich geprägten Milieus, sondern zwischen  Bevölkerung und Machtelite, die Politik, Verwaltung und Wirtschaft kontrolliert.  Im Gegensatz zu den alten Zeiten kann diese Oligarchie jedoch nicht mehr ungestört schalten und walten. Das heutige Charkiv zeichnet sich durch eine vielfältige, wache Zivilgesellschaft aus. In den letzten beiden Jahren sind rund 200 neue NGO’s entstanden. Es gibt eine Vielzahl von Freiwilligenorganisationen, humanitären Initiativen, Kulturprojekten, die internationale Kontakte knüpfen. Die deutsche Honorarkonsulin, eine Anwältin, nannte das eine „Graswurzelrevolution“. Die offene Frage ist, wann und wie diese zivilgesellschaftliche Bewegung auch auf die offizielle Politik ausgreifen wird.

Ungewöhnliche Patrioten: Serhij Zhadan & friends

Zhadan, ein schmaler, energiegeladener Mann, ist Kopf der Punkband „Hunde im Kosmos“, Schriftsteller und Maidan-Aktivist, der unaufhörlich neue Ideen und Projekte ausbrütet. Er kam gerade von einer Tour mit seiner Band an der Frontlinie im Donbas zurück: 5 Konzerte in drei Tagen, darunter zwei Auftritte für Soldaten der ukrainischen Armee direkt an der „Kontaktlinie“. Sein Publikum besteht vor allem aus jungen Leuten, auf den Fotos sind aber auch ältere Frauen zu sehen, die sich zum ersten Mal in ein Punkkonzert verirrt haben. Wenn Zhadan seinen Anti-Putin-Song anstimmt, sind die Reaktionen im Publikum durchaus gemischt. Die meisten älteren Leute im Donbas sehen russisches Fernsehen  und tun sich schwer damit, die Aggression beim Namen zu nennen.  Ihre soziale Lage ist miserabel, viele Betriebe sind zerschossen, Gehälter werden nicht oder verspätet gezahlt, die Renten sind gering,  das Alltagsleben durch den Krieg noch mühseliger. Dazu kommen die vielen Flüchtlinge aus den Separatistenrepubliken, die sich in den angrenzenden Gebieten aufhalten. Allein im Bezirk Charkiv sind das nach Aussage der OSCE rund 230.000 Menschen, die untergebracht und halbwegs versorgt werden müssen.

Trotz dieser Härten ist die politische Lage erstaunlich stabil. „Die Gefahr, dass Charkiv zur Hauptstadt Neurusslands werden könnte, ist vorbei – außer Russland startet eine militärische Großoffensive“, sagt ein Musiker in der Runde. Die Gruppe überlegt, wie sie die Herzen und Köpfe der Menschen im Donbas erreichen kann, um sie gegen die ideologische Kriegführung der russischen Medien zu immunisieren. Konzerte, Literaturabende, Internetforen und Gespräche: „Man muss mit den Leuten reden“.  Es sind erstaunliche Patrioten, denen man in der Kiew oder Charkiv begegnet – linke Umweltaktivisten,  Rockmusiker, Dichter, Feministinnen, Menschenrechtler. Gemeinsam ist ihnen der Traum von einer demokratischen, freien Ukraine. Man ist ein wenig gerührt und beschämt, wenn sie von Europa sprechen. Die wahren europäischen Idealisten findet man heute in einem Land, mit dem viele Europäer nichts zu tun haben wollen.

Tram in Odessa

Odessa, 17./18. Februar 2016: Welch eine schöne Stadt! Vor rund 200 Jahren von Architekten aus Frankreich, Deutschland, Russland und Italien erbaut, vereinigt Odessa den Charme einer historischen Altstadt mit der Lebhaftigkeit einer Hafen- und Handelsstadt. Selbst im Winter spürt man ihr südliches Flair.  Wie alle großen Hafenstädte ist sie liberaler, weltoffener als das Binnenland. Schiffahrt und Handel schaffen Verbindungslinien in alle Welt. Odessa ist seit je eine multikulturelle Stadt mit zahlreichen „nationalen Minderheiten“ (so die offizielle Terminologie).  Bei der Volkszählung 1929 gaben 37 Prozent der Bevölkerung als Nationalität „jüdisch“ an. 1960 waren es noch 9-10 Prozent. Trotz der Abwanderung in den 90er Jahren gibt es heute noch zwei jüdische Gemeinden und ein Gymnasium. Insgesamt leben fast 140 Nationalitäten in Odessa – mehr als in jeder anderen ukrainischen Stadt (Informationen des deutschen Honorarkonsuls).

Generation Maidan

Auch in anderer Hinsicht ist Odessa ein eigener Mikrokosmos.  Die Ökonomie wird nicht von großen Industriekombinaten, sondern von Handel und Seefahrt bestimmt. Es gibt eine Vielzahl kleinerer und mittlerer Unternehmen, das Durchschnittseinkommen ist höher als in Kiew. Auch das ist ein Grund für das Selbstbewusstsein der Odessiten und für ihre Distanz zum Zentralstaat. Eigeninitiative und Unternehmertum sind ausgeprägter als in der Ost- und Zentralukraine. Man wartet man hier nicht auf Wohltaten von oben. Diese Haltung hat sich seit dem Euromaidan noch verstärkt, vor allem bei den Jungen. Ihr gesellschaftlicher Aktivismus  hat einen Ankerpunkt mitten in der Stadt: Der „Impact Hub“, eine Mischung aus Starbucks, Internet Workspace, Kulturzentrum und Projektwerkstatt.  Dort treffen sich täglich Hunderte Schüler und Studenten, tauschen sich aus, verabreden gemeinsame Projekte, holen sich Tipps, hören Vorträge und organisieren humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, Unterstützung für die Soldaten an der Front, Nachhilfe für lernbehinderte Kinder, Kulturfestivals, alternative Medien etc. Es ist eine Freude, diesen selbstbewussten  jungen Leuten mit ihrem praktischen Idealismus zu begegnen.  Für deutsche Ohren ist es erstaunlich, wie selbstverständlich sie sich als „ukrainische Patrioten“  bezeichnen. Der Versuch Putins, die Ukraine mit Gewalt wieder in den russischen Orbit zu zwingen, hat augenscheinlich eine neue patriotische Generation hervorgebracht. Für sie ist nationale Unabhängigkeit eine Chiffre für den Wunsch nach Freiheit und Anschluss an die europäische Moderne. Der neue ukrainische Patriotismus vereinigt Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion,  Punkmusiker und Internetfreaks, Feministinnen und Umweltaktivisten, Künstler und junge Unternehmer.  Ultrarechte Strömungen, die einem rückwärtsgewandten (völkischen)  „Ukrainertum“ frönen, sind Randerscheinungen.

Als es im Mai 2014 in Odessa zu Straßenschlachten zwischen prorussischen und ukrainisch-nationalistischen Gruppen kam, an deren Ende das Gewerkschaftshaus brannte und 42 Anti-Maidan-Aktivisten in den Flammen ums Leben kamen, ging eine Schockwelle durch die Stadt. Viele fürchteten eine Wiederholung der Ereignisse im Donbas.  Die russische Propaganda sprach von einem faschistischen Massaker, international war viel von der ethnisch-politischen Spaltung Odessas die Rede. Heute ist davon wenig zu bemerken. Separatistische Aktivitäten gibt es allenfalls noch in kleinen Zirkeln. Das Leben in den russischen Protektoraten im Donbas ist alles andere als verlockend, die Nachrichten aus Russland klingen auch nicht gut.  Russisch zu sprechen, russische Schlager zu hören und Literatur zu lesen heißt noch lange nicht, von Russland eingemeindet werden zu wollen. Ein Gesprächspartner brachte es auf die Formel „Wir sind ukrainische Patrioten, aber keine Nationalisten – dafür leben zu viele nationale Minderheiten in Odessa“.  Diese Selbstverortung trifft sicher nicht auf alle Bewohner der Stadt zu, beschreibt aber wohl die Haltung einer deutlichen Mehrheit. Auch die Polizeireform hat zur Stabilisierung der Lage beigetragen – man weiß heute, auf welcher Seite die Sicherheitsorgane stehen. Das war nicht immer der Fall.

Saakaschwilis Task Force – Dezentralisierung und Kampf gegen die Korruption

Dass ein ehemaliger georgischer Präsident jetzt als Gouverneur von Odessa seine zweite Chance bekommt und zentrale Positionen (Polizeipräsident, Generalstaatsanwalt) mit ehemaligen Landsleuten besetzt, passt nicht so recht ins Bild des „ukrainischen Nationalismus“. Zu Odessa passt es sehr wohl: dort haben schon seit der Gründung  Franzosen, Deutsche, Spanier eine wichtige Rolle gespielt. Entscheidend ist nicht, woher jemand kommt, sondern was er kann, zumal das Zutrauen in die einheimischen Eliten ohnehin am Boden ist. Saakaschwili hat einen Ruf als Reformer, der sein Land nach vorn gebracht hat, bevor ihm die Macht zu Kopfe stieg.  Er hat in Georgien die Korruption weitgehend aus dem Alltag verdrängt, insofern war er in Odessa der richtige Mann am richtigen Ort – die Stadt gilt selbst nach ukrainischen Maßstäben als eine Hochburg der Korruption. Bei seinem Amtsantritt im Mai letzten Jahres hatte er durchaus Kredit in der Bevölkerung. Er stürzte sich umgehend mit einem handverlesenen Team von jungen Talenten ins Getümmel – manche Stimmen sprechen etwas spöttisch von „Reformamateuren“.  Vieles blieb bisher bei vollmundigen Ankündigungen, aber zehn Monate sind zu kurz für eine ernsthafte Leistungsbilanz, zumal die Regionalregierung in vielen Fragen von der Kiewer Zentrale abhängt, wo Saakaschwilis ungestillte Ambitionen auf keine große Gegenliebe stoßen.  Seine Neigung, sich als starker Mann zu inszenieren, steht im Kontrast zu seinen sehr begrenzten Vollmachten. Immerhin attestieren unabhängige Köpfe aus der NGO-Szene, dass mit Saakaschwili ein neuer politischer Stil eingekehrt ist – es ist jetzt einfacher, an Informationen aus der Verwaltung heranzukommen, es gibt Konsultationen mit Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, der Haushalt der Regionalverwaltung ist im Internet einsehbar, ebenso wie die Ausschreibung und Vergabe öffentlicher Aufträge.

Wir treffen Mitarbeiterinnen aus dem inneren Zirkel der Regionalregierung (Oblast). Solomiia Bobrovska, unter anderem zuständig für Dezentralisierung, ist  vielleicht Anfang  dreißig, ihre Kollegin Julia Maruschewska, die neue Leiterin der Zollverwaltung, noch in den Zwanzigern. Junge, im Westen ausgebildete, hoch engagierte Frauen  sind das Gesicht des Reformteams, das im Auftrag des Gouverneurs die Verwaltung umkrempeln, die Korruption bekämpfen und die Wirtschaft modernisieren soll.  Darunter sind georgische Experten, die schon praktische Erfahrungen gesammelt haben, Ukrainer, die in Amerika oder Westeuropa erfolgreich waren und jetzt im eigenen Land Hand anlegen wollen, ebenso wie Aktivistinnen aus der Zivilgesellschaft, die von der  Opposition gegen die Regierung in die Exekutive gewechselt sind.  Innerhalb von wenigen Monaten wurde die Regionalverwaltung von 800 auf 400 Angestellte geschrumpft – die öffentliche Administration sei maßlos aufgebläht und verbringe einen Großteil der Zeit damit, Papiere hin und her zu schieben. Man schwankt zwischen Bewunderung und Zweifel, ob das Experiment gelingen kann, eine verkrustete Verwaltung durch eine Task Force von jungen Enthusiasten zu modernisieren. 

Die Reformer nehmen ihren Job sehr ernst. Teamgeist wird großgeschrieben, es gibt Wochenendklausuren, Weiterbildungsseminare und regelmäßige Beratungsrunden. Neu und jung zu sein, hat den Vorteil, unbelastet einsteigen zu können. Zugleich bedeutet es, den hinhaltenden Widerstand der etablierten Seilschaften und Machtgruppen überwinden zu müssen.  Ihre Verbündeten müssen sie in der Zivilgesellschaft suchen, bei Nichtregierungsorganisationen und  Unternehmern, die unter Korruption und Bürokratismus leiden, sowie bei den Kräften in der Verwaltung, die sich vom Geist der Erneuerung anstecken lassen.  Im Regionalparlament, das von ehemaligen Janukowitsch-Anhängern dominiert wird, bläst ihnen der Wind ins Gesicht. Die Herausforderungen sind riesig. So sollen innerhalb von zwei Jahren die bisherigen Gemeinde- und Kreisverwaltungen zu einer neuen Struktur zusammengelegt werden. Damit entfällt eine komplette Verwaltungsebene. Dass das nicht nur Freude auslöst, kann man sich vorstellen. 

Umbau der Zollverwaltung

Planlosigkeit kann man der jungen Truppe Saakaschwilis jedenfalls nicht vorwerfen. Das Konzept für den Umbau der Zollbehörde Odessas, das Julia Maruschewska auf ihrem Laptop präsentierte, war bis ins Detail ausgearbeitet. Es folgte drei klaren Prinzipien: Transparenz, Vereinfachung, klare Verantwortlichkeiten. Die Behörde zählte bisher 1200 Mitarbeiter. Ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung  ergibt sich aus der Rolle Odessas als wichtigster Seehafen des Landes. Die Zollverwaltung gilt als Inbegriff für bürokratische Langsamkeit und als Hochburg der Korruption. Sie warten dringend auf die Freigabe eines Containers? Schmiergeld kann helfen. Das System der Geldeintreibung war von oben nach unten organisiert. Es gab Normen, wie viel Geld ein Bereichsleiter einzuspielen hatte. Die Korruption ist sozusagen schon in das Gehalt eingepreist – der Durchschnittslohn eines Zollbeamten beträgt 50 Euro im Monat.  Ohne anständige Vergütung für anständige Arbeit ist dieses System nicht zu knacken. Intransparenz, unklare Verantwortung und verschlungene Dienstwege begünstigen die Vorteilsnahme.  Maruschewska und ihr Team haben das „one stop-agency“-Prinzip eingeführt – jeder Kunde muss sich nur noch an eine zuständige Stelle wenden, die für den gesamten Vorgang zuständig ist. Einfuhr- und Ausfuhrgenehmigungen können elektronisch beantragt werden. Der Prüfaufwand wird je nach Wert und Sicherheitsklasse einer Sendung differenziert. Alle Vorgänge werden elektronisch dokumentiert. Eine Ermittlungseinheit wurde installiert, bei der Unregelmäßigkeiten angezeigt werden können. Als Berater wurden der ehemalige Leiter der georgischen Zollbehörde sowie französische Fachleute beigezogen.  – Frage: Sie müssen die Reformen gegen die Seilschaften durchsetzen, die ihre Pfründe verlieren. Wie reagieren altgediente Beamte darauf, dass Ihnen eine junge Frau vor die Nase gesetzt wird, die alles umkrempelt?  Maruschewska: Die Miliz ist bei uns ein paramilitärisches System. Die Beamten sind gewohnt, Befehle auszuführen. Das hilft. – Einwurf von Solomiia Bobrovska: „We are girls“ – das sei für viele schwer zu verdauen. – Good luck, girls!

Ralf Fücks in Odessa

Mein kleines Fazit

Als wir Kiew verließen, stand ich unter dem Eindruck der Intrigen, Partikularinteressen und Intransparenz der nationalen Politik. Odessa hat ein anderes Bild vermittelt – das einer jungen, professionellen und hoch engagierten Generation, die entschlossen ist, ihr Land zum Besseren zu verändern. Das wird länger dauern, als man es wünschen mag. Aber es grenzt schon an ein Wunder, dass die Ukraine es geschafft hat, sich trotz der militärischen Intervention und des massiven Propagandakriegs aus Russland, trotz wirtschaftlicher Krise und humanitärer Notlage, trotz des desolaten Zustands der staatlichen Institutionen zu behaupten und mehr noch: im Eiltempo Reformen auf vielen Gebieten einzuleiten, von der Restrukturierung der  Banken und des Energiesektors bis zur Verabschiedung eines modernen Antidiskriminierungsgesetzes. Es wäre fatal, wenn sich der Westen vorschnell von der Ukraine abwenden würde, statt die Kräfte des Neuen gegen die Beharrungskräfte der alten Seilschaften zu unterstützen.