Sozial gespaltene Demokratie

Warum die niedrige Wahlbeteiligung der Demokratie schadet

 

Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 war die zweitschlechteste seit Gründung der Bundesrepublik. Fast 30 Prozent verzichteten auf ihr Wahlrecht. Wachsende regionale und soziale Unterschiede der Wahlbeteiligung verschärfen die politische Ungleichheit. Die demokratische Repräsentation erodiert und die Demokratie verliert nach Meinung vieler an innerer Legitimität. Die geringe Wahlbeteiligung schadet deshalb der Demokratie. Eine gesetzliche Wahlpflicht lehnen die Wählerinnen und Wähler in Deutschland jedoch ab.

Wahlbeteiligung verharrt auf historischem Tiefststand

Die Wahlbeteiligung hat sich bei der Bundestagswahl auf historisch niedrigem Niveau verfestigt. Mit 71,5 Prozent lag sie nur geringfügig um 0,7 Prozentpunkte über dem Negativrekord der Bundestagswahl 2009. Erneut haben von den insgesamt 61,8 Millionen Wahlberechtigten mehr als 17,6 Millionen Menschen ihr Wahlrecht bei einer Bundestagswahl nicht ausgeübt. Die Wahlbeteiligung ist damit nicht nur die zweitschlechteste seit Gründung der Bundesrepublik, sondern die zweitschlechteste bei einer nationalen Wahl in Deutschland seit fast 120 Jahren. Von ihren Höchstwerten Anfang der 1970er Jahre hat die Wahlbeteiligung in Deutschland bis heute um nahezu ein Viertel abgenommen, seit 1998 war sie bei drei Bundestagswahlen in Folge rückläufig. Diese zunehmende Hartnäckigkeit und Dauerhaftigkeit des Wahlverzichts vieler Menschen korrespondiert mit der abnehmenden Bedeutung des Wahlrechts für viele Wählerinnen und Wähler: Mehr als 20 Prozent sehen ihr Wahlrecht inzwischen als nicht mehr „sehr wichtig“ an. Von den politisch nicht besonders interessierten Wahlberechtigten sagt das sogar fast jeder Dritte. [i] Noch ausgeprägter ist die abnehmende Bedeutung des Wahlrechts in der Generation der ostdeutschen Erst- und Zweitwählerinnen und -wähler: In der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen empfindet nur noch etwas mehr als die Hälfte ihr Wahlrecht als ein sehr wichtiges demokratisches Grundrecht.  Das zeigt: Die Nichtwählerinnen und -wähler in Deutschland sind in ihrer großen Mehrheit keine „Wähler auf Urlaub“ oder „Wähler im Wartestand“, und die sinkende Wahlbeteiligung ist auch kein lediglich konjunkturelles Phänomen einer vorübergehenden Parteien- oder Politikverdrossenheit. In Deutschland hat sich seit Anfang der 1980er Jahre ein wachsendes Potential dauerhafter Nichtwählerinnen und -wähler etabliert, das die Demokratie vor ernsthafte Herausforderungen stellt.

Sinkende Wahlbeteiligung verschärft die politische Ungleichheit

Eine dieser Herausforderungen ergibt sich aus den ausgeprägten regionalen und sozialen Unterschieden der Wahlbeteiligung, die zu einer sich verschärfenden politischen Ungleichheit in Deutschland führen. Während die hohe Wahlbeteiligung der 1970er Jahre noch sehr gleichmäßig über alle Regionen und Schichten des Landes verteilt war, hat sich die soziale und regionale Schere der Wahlbeteiligung in den letzten Jahrzehnten stetig geöffnet. Ein erster Indikator dafür ist die Unterschiedlichkeit der Wahlbeteiligung auf Ebene der Wahlkreise, die seit Ende der 1970er Jahre drastisch zugenommen hat:

  • Bei der Bundestagswahl 1972 lag die Wahlbeteiligung bei insgesamt 91,1 Prozent aller Wahlberechtigten. Der Unterschied zwischen den zehn Prozent der Wahlkreise mit der  jeweils höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung lag bei lediglich 5,4 Prozentpunkten.

     
  • Bei der Bundestagswahl 2013 lag die Wahlbeteiligung bei insgesamt 71,5 Prozent aller Wahlberechtigten. Der Unterschied zwischen den zehn Prozent der Wahlkreise mit der jeweils höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung lag dabei mit 15,3 Prozentpunkten drastisch höher als 1972.

Die Unterschiede zwischen den Wahlkreisen mit der höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung haben sich damit zwischen 1972 und der Bundestagswahl 2013 nahezu verdreifacht. Noch schärfer zeigt sich die Ungleichheit der Wahlbeteiligung auf der Ebene einzelner Stimmbezirke. Hier lag der Unterschied zwischen den Stimmbezirken mit der höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung 2013 bereits bei 30 Prozentpunkten und damit im Vergleich zur Spreizung bei den Wahlkreisen fast doppelt so hoch: Die höchste Wahlbeteiligung in den Stimmbezirken erreichte 83,6 Prozent, während die geringste bei lediglich 54,1 Prozent lag.


Die Analyse von 28 Großstädten und 640 bundesweit repräsentativen Stimmbezirken zeigt darüber hinaus: Die sozialen Lebensverhältnisse, der soziale Status und die Milieuzusammensetzung eines Wohngebietes bestimmen die Höhe der Wahlbeteiligung. Festmachen kann man diese unterschiedlichen sozialen Realitäten u.a. an den gesellschaftlichen Milieus, die ein Wohngebiet prägen und an der Höhe der Arbeitslosigkeit sowie dem Bildungsstand der dort jeweils lebenden Haushalte. [ii]


Die Wahlbeteiligung sinkt, je prekärer die Lebensverhältnisse in einem Stadtviertel oder Stimmbezirk sind. Konkret bedeutet das: Je größer der Anteil der sozial schwächeren Milieus, je höher die Arbeitslosigkeit, je schlechter die Wohnverhältnisse und je geringer der Bildungsstand und die durchschnittliche Kaufkraft in einem Stadtteil oder Stimmbezirk, umso geringer ist die Wahlbeteiligung.

Sozial gespaltene Wahlbeteiligung

Besonders anschaulich werden die Unterschiede in den Lebensverhältnissen, wenn man die gesellschaftlichen Milieus betrachtet und sie in Bezug zur Wahlbeteiligung setzt. Früher sprach man von der Oberschicht und der Mittelschicht – heute ist der Blick auf gesellschaftlichen Gruppen differenzierter: Mit den auf den Sinus-Milieus basierenden Microm-Geo-Milieus steht ein Ansatz zur Verfügung, der sozialen Status und Einstellungen kombiniert. Sie verdichten Informationen über Haushaltseinkommen, Bildung und Beruf zu einer Dimension sozialer Schichtung und ergänzen diese durch eine zweite Dimension, in die Werte und Einstellungen einfließen. Setzt man nun diese insgesamt zehn Milieus und ihre Verteilung in einem bestimmten Gebiet in Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung, so zeigt sich ein eindeutiges Bild: Je mehr Menschen aus den sozial schwächeren Milieus in einem Stadtviertel wohnen, umso geringer ist die Wahlbeteiligung, während dort, wo überdurchschnittlich viele Menschen aus den sozial stärkeren Milieus wohnen, auch die Wahlbeteiligung überdurchschnittlich hoch ausfällt.


Wo viele Menschen aus dem liberal-intellektuellen Milieu und dem Milieu der sogenannten „Performer“ leben, ist die Wahlbeteiligung überdurchschnittlich hoch. Die Bildungs- und jungen Leistungseliten dieser Milieus legen viel Wert auf ein selbstbestimmtes Leben, global-ökonomisches Denken und sind von vielfältigen intellektuellen Interessen geprägt.


Einen ebenfalls positiven Einfluss auf die Wahlbeteiligung haben das konservativ-etablierte Milieu und das sozialökologische Milieu. Hier findet sich das klassische Establishment, das von einer starken Verantwortungs- und Erfolgsethik gekennzeichnet ist. Aber auch konsumkritische Gruppen mit sehr klaren Vorstellungen vom normativ „richtigen“ Leben und einem starken sozialen Gewissen gehören dazu. Dort, wo diese Milieus überdurchschnittlich vertreten sind, stellt man einen leicht positiven Effekt auf die Höhe der Wahlbeteiligung fest.


Ein entgegengesetzter und damit negativer Effekt auf die Wahlbeteiligung zeigt sich dort, wo die drei sozial schwächeren Milieus leben – das Milieu der Traditionellen, der Prekären und das der Hedonisten. Sicherheitsbedürfnis, Ordnungsliebe und Kleinbürgertum prägen diese Milieus ebenso wie große Zukunftsängste, geringe Aufstiegsperspektiven und soziale Benachteiligungen. Gleichzeitig sind vor allem die Milieus der Prekären und Hedonisten aber auch geprägt von einer spaß- und erlebnisorientierten Unterschicht, die sich den Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft verweigert. Wo diese Grundhaltungen auftauchen, ist die Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich.


Keinen messbaren Effekt auf die Wahlbeteiligung haben dagegen die Milieus der bürgerlichen Mitte, der Adaptiv-Pragmatischen und Expeditiven. Hier steht die ambitionierte kreative Avantgarde neben dem bürgerlichen Mainstream und der modernen jungen Mitte mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus.


Gerade innerhalb der sozial schwachen Milieus macht die Grundorientierung und Werthaltung einen entscheidenden Unterschied: Traditionelle Werte erleichtern den Weg zur Wahlurne, individualistische und experimentelle, auf Neuorientierung sowie Spaß- und Erlebnisorientierung abzielende Grundeinstellungen führen eher zur Nichtwahl.


Insgesamt bleibt festzuhalten: In den Stadtteilen mit der niedrigsten Wahlbeteiligung gehören fast zehnmal so viele Menschen (67 Prozent) einem der drei sozial prekären Milieus an wie in den Stadtteilen mit der höchsten Wahlbeteiligung (7 Prozent). Neben dem geringen Niveau der Wahlbeteiligung sind es vor allem diese drastischen sozialen Unterschiede in der Wahlbeteiligung, die unsere Demokratie vor eine Herausforderung stellen. Denn bei der Bundestagswahl 2013 kamen überproportional viele Nichtwählerinnen und -wähler aus den sozial prekären Milieus. Ihre Meinungen, Präferenzen und Interessen sind im Wahlergebnis unterrepräsentiert. Die Bundestagswahl 2013 war deshalb eine sozial prekäre Wahl.

Innerer Legitimitätsverlust der Demokratie

Eine weitere Herausforderung für die Demokratie ergibt sich aus dem inneren Legitimitätsverlust von Wahlergebnissen und Gewählten, der mit niedrigen Wahlbeteiligungen verbunden ist: Je weniger Wählerinnen und Wähler sich beteiligen, umso geringer ist der Grad der Repräsentation der Bevölkerung, und je geringer der Grad der Repräsentation, umso geringer die innere Legitimität der gewählten demokratischen Institutionen.


Wie stark die Repräsentation durch die Wahlbeteiligung inzwischen erodiert ist, zeigen die folgenden Überlegungen zum aktuellen Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl 2013: Von den insgesamt 68,7 Millionen Einwohnern in Deutschland im wahlfähigen Alter waren 61,8 Millionen Menschen wahlberechtigt. Von allen Wahlberechtigten haben sich 71,5 Prozent an der Wahl beteiligt, in absoluten Zahlen haben bei dieser Bundestagswahl also 44,2 Millionen Wählerinnen und Wähler an der Wahl teilgenommen. Nimmt man als Grundgesamtheit statt der Wahlberechtigten alle Einwohner im wahlfähigen Alter, sinkt die Wahlbeteiligung von 71,5 auf nur noch 64,3 Prozent. Aber nicht nur die Wahlberechtigung und die Wahlbeteiligung beeinflussen den Grad der Repräsentation eines Wahlergebnisses. In Deutschland führt auch die Fünf-Prozent-Hürde des Wahlrechts zu einer weiteren Absenkung der effektiven Repräsentation der Wählerinnen und Wähler durch die Gewählten. Bei der Bundestagswahl 2013 wurde ein Rekordanteil von 15,7 Prozent der abgegebenen Stimmen aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde nicht gezählt. Insgesamt ergibt sich daraus für den neu gewählten Bundestag eine Repräsentationsquote in Höhe von lediglich 59,5 Prozent aller Wahlberechtigten. In Bezug auf alle Einwohner im wahlfähigen Alter sinkt diese Repräsentationsquote noch weiter auf lediglich noch 53,6 Prozent.


Zusammengefasst heißt das: Die Zusammensetzung des neu gewählten 18. Deutschen Bundestages repräsentiert nur noch die Stimmen von 59,8 Prozent aller Wahlberechtigten und von lediglich noch 53,6 Prozent aller Einwohner Deutschlands im wahlfähigen Alter.

Dass sich aus derart niedrigen Repräsentationsquoten erhebliche innere Legitimitätsverluste der Demokratie in Deutschland ergeben, zeigen die Einstellungen der deutschen Wählerinnen und Wählern gegenüber Wahlergebnissen mit niedriger Wahlbeteiligung: Der Auffassung, bei einer niedrigen Wahlbeteiligung könne nicht mehr von einem demokratischen Wahlergebnis gesprochen werden, stimmt fast ein Drittel (30,8 Prozent) aller Wählerinnen und Wähler in Deutschland zu. Nur noch etwas mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten (57,3 Prozent) sehen die demokratische Legitimation unabhängig von der Höhe der Wahlbeteiligung.


Die Wählerinnen und Wähler selbst sehen also eine „Demokratie ohne Wähler“ schon heute als weniger demokratisch und weniger legitim an. Nur noch gut die Hälfte aller Wählerinnen du Wähler in Deutschland empfindet die Wahlergebnisse auch unabhängig von der Höhe der Wahlbeteiligung als uneingeschränkt demokratisch. Bereits fast jeder Dritte sieht schon heute wachsende innere Legitimitätsdefizite der Demokratie durch Wahlergebnisse mit niedriger Wahlbeteiligung und daraus resultierenden drastisch sinkenden Repräsentationsquoten. Aus diesen Entwicklungen kann leicht ein Teufelskreis sinkender Wahlbeteiligung, abnehmender Repräsentation und abnehmender gefühlter Legitimität der demokratischen Institutionen entstehen, die dann wiederum zu einer weiter sinkenden Wahlbeteiligung führt. Deutschland ist längst in diesem Teufelskreis angekommen.

Erodierende Repräsentation der Direktmandate

Das Problem einer abnehmenden Repräsentation zeigt sich auch bei den Erststimmenergebnissen, mit denen die Direktkandidaten in den Wahlkreisen gewählt werden. Auch hier erodiert der Stimmenanteil der direkt in den Bundestag gewählten Abgeordneten und führt zu stark abnehmenden Repräsentationsquoten:


-     Bei der Bundestagswahl 1972 wurden alle Direktmandate im Durchschnitt noch mit einer knappen absoluten Mehrheit (50,2 Prozent) der Erststimmen gewählt. Der durchschnittliche Wahlsieger repräsentierte damit auch zumindest die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen in seinem Wahlkreis. Selbst in den zehn Prozent der Wahlkreise mit den knappsten Direktwahlergebnissen wurden die Direktmandate noch mit immerhin durchschnittlich 42,2 Prozent der Erststimmen gewählt.


-     Bei der Bundestagswahl 2013 wurden die Direktkandidaten im Durchschnitt nur noch mit einem um fast ein Fünftel niedrigeren Stimmergebnis gewählt. In den unteren zehn Prozent der Wahlkreise mit den knappsten Direktwahlergebnissen sank die relative Wahlkreismehrheit sogar auf weniger als ein Drittel (30,7 Prozent).

Noch deutlicher zeigen sich die Repräsentationsverluste der direkt gewählten Abgeordneten, wenn man als Grundgesamtheit die Anzahl aller Einwohner eines Wahlkreises im wahlfähigen Alter über 18 Jahre wählt:

- Bei der Bundestagswahl 1972 wurden die Direktmandate noch mit durchschnittlich 45,2 Prozent aller Einwohner im wahlfähigen Alter gewonnen. Selbst in den Wahlkreisen mit den knappsten Direktwahlergebnissen lag das Wahlergebnis der direkt gewählten Abgeordneten nur knapp unterhalb der 40-Prozent-Marke (37,6 Prozent).


-    Bei der Bundestagswahl 2013 wurden die Direktmandate im Durchschnitt aller Wahlkreise nur noch von weniger als einem Drittel aller Einwohner im wahlfähigen Alter gewählt. In den zehn Prozent der Wahlkreise mit den knappsten Direktwahlergebnissen lag dieses Stimmergebnis mit 19,5 Prozent sogar leicht unterhalb der 20-Prozent-Schwelle, d.h. noch nicht einmal jeder fünfte Einwohner über 18 Jahre hat den direkt in den Bundestag gewählten Abgeordneten seines Wahlkreises auch tatsächlich gewählt.

Die insgesamt 299 direkt in den neuen Bundestag gewählten Abgeordneten repräsentieren damit im Durchschnitt nur noch wenig mehr als ein Viertel der Bevölkerung ihrer jeweiligen Wahlkreise im wahlfähigen Alter über 18 Jahre. In den zehn Prozent aller Wahlkreise mit besonders niedriger Wahlbeteiligung und knappen Direktwahlergebnissen liegt diese Repräsentationsquote der Direktkandidaten sogar bereits unterhalb von 20 Prozent, d.h. die jeweils direkt gewählten Abgeordneten wurden noch nicht einmal von jedem fünften Bürger im wahlfähigen Alter gewählt.

Trotz Negativrekord gegen Wahlpflicht

Als scheinbar einfache Methode zur Steigerung der Wahlbeteiligung wird häufig die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht diskutiert. Auch wenn die internationalen Erfahrungen in Ländern mit Wahlpflicht sehr unterschiedlich sind, scheint eine sanktionsbewehrte gesetzliche Wahlpflicht zunächst durchaus geeignet, um Wahlbeteiligungen in Höhe von über 90 Prozent aller Wahlberechtigten zu gewährleisten. Das zeigt zum Beispiel die Erfahrung in Australien, wo die Wahlpflicht mit Bußgeldern und – als Ultima Ratio – sogar mit der Androhung von Haftstrafen durchgesetzt wird. Am Beispiel Italien zeigt sich allerdings gleichzeitig auch, dass ohne begleitende Sanktionen eine Wahlpflicht allein noch kein zuverlässiger Garant einer höheren Wahlbeteiligung ist. In Deutschland lehnen ohnehin fast vier Fünftel (79 Prozent) aller Wählerinnen und Wähler die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht ab. Lediglich etwa jede/r siebte Wahlberechtigte (15,1 Prozent) hält eine Wahlpflicht in Deutschland für eine gute Idee. Dem demokratischen Grund- und Selbstverständnis der Deutschen scheint eine gesetzliche Wahlpflicht jedenfalls nicht zu entsprechen.


Ihre Einführung gegen den Willen einer großen Mehrheit aller Wahlberechtigten könnte die ohnehin wachsenden Legitimitätsdefizite der Demokratie sogar noch verstärken. Die Deutschen scheinen ohnehin eher die Parteien in der Verantwortung zu sehen, wieder für eine höhere Wahlbeteiligung zu sorgen. Immerhin fast die Hälfte (46,7 Prozent) aller Wahlberechtigten hält es für einen guten Vorschlag, die Höhe der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung für die Parteien direkt von der Höhe der erreichten Wahlbeteiligung abhängig zu machen. Je geringer die Wahlbeteiligung, desto geringer sollte nach ihrer Meinung auch die staatliche Wahlkampfkostenbeteiligung ausfallen. Nur gut ein Viertel (26,7 Prozent) hält das für eine nicht so gute Idee. Einseitig den Parteien die Verantwortung zunächst für das Sinken der Wahlbeteiligung – Stichwort Parteienverdrossenheit – und darüber hinaus auch für die Behebung der daraus resultierenden Repräsentations- und Legitimationsdefizite zuzuschieben, wäre jedoch weder angemessen noch erfolgversprechend. Das Erreichen einer wieder höheren Wahlbeteiligung, einer verbesserten demokratischen Repräsentation, einer sozial repräsentativeren Wählerschaft und im Ergebnis einer verbesserten Legitimität unserer demokratischen Institutionen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Parteien spielen dabei eine wichtige Rolle, sind allein damit jedoch überfordert.

Höhere Wahlbeteiligung als gesellschaftliche Herausforderung

Einfache Patentrezepte gibt es leider nicht. Aber wir wissen beispielsweise aus den Erfahrungen in Schweden und Dänemark: Demokratien mit starkem gesellschaftlichen Zusammenhalt, einer hohen sozialen Homogenität und einem inklusiven Bildungs- und Sozialsystem scheinen diese Herausforderungen deutlich besser zu meistern als weniger inklusive und sozial heterogenere Gesellschaften.


Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Inklusion und soziale Gerechtigkeit sind langfristige gesellschaftliche Herausforderungen. Die Familien, Bildungsinstitutionen, Vereine, Religionsgemeinschaften, Kommunen und Nachbarschaften sind hier ebenso gefragt wie die politischen Vereinigungen und Parteien.


Dennoch stellen sich dabei auch sehr konkrete Fragen an das politische System, unser Wahlrecht und die Parteien: Ist es gut für die Demokratie in Deutschland, wenn fast sieben Millionen Menschen ohne deutschen Pass von einer Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen bleiben? Sollten wir unser Staatsbürgerschafts- und/oder Wahlrecht nicht daraufhin überprüfen, ob mehr Inklusion und Teilhabe an der gemeinsamen Demokratie machbar ist? In welchem Verhältnis steht der demokratische Repräsentations- und Legitimitätsverlust einer Fünf-Prozent-Hürde im Wahlrecht, wenn dadurch mehr als 15 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Sitz- und Machtverteilung im Bundestag entfallen? Wie groß kann der Beitrag der Parteien sein, wenn sie sich stärker der Mitwirkung auch von Nichtmitgliedern öffnen? Könnte ein Wahlrecht, in dem Wählerinnen und Wähler auch über die Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien mitentscheiden, die Identifikation, Repräsentation und Legitimität einer Wahl erhöhen? Welche Rolle spielt die Wahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger für die Höhe der Wahlbeteiligung, Parteien seien hermetisch abgeriegelte Mitgliederorganisationen mit dem Ziel der eigenen Machterhaltung? Welche Rolle können neue Formen der Bürgerbeteiligung und der direkten Demokratie bei der Aktivierung von Nichtwählerinnen und -wähler spielen?


Fragen, die eine Antwort brauchen, bevor unsere Demokratie durch weiter sinkende Wahlbeteiligungen, eine erodierende Repräsentation und die daraus resultierenden Legitimitätsverluste ernsthaften Schaden nimmt!

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[i]              Thomas Petersen/Dominik Hierlemann,/Robert Vehrkamp/Christopher Wratil: Gespaltene Demokratie – Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2013.

[ii]              Armin Schäfer/Robert Vehrkamp/Jeremie Gagne: Prekäre Wahlen – Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2014.