Überraschungssieg in Kanada: Liberale gewinnen Wahlen

Justin Trudeau at the 2015 Pride Parade Toronto.

Mit den Wahlen vom 19. Oktober sind die Liberalen zurück – Justin Trudeau löst den konservativen Stephen Harper als Ministerpräsidenten ab. Was wird die neue Regierung bringen? Ein Kommentar.

Es war eine Berg- und Talfahrt von einer Wahl, die neu definierte, was in der kanadischen Politik möglich ist: Am 19. Oktober, als die Stimmen ausgezählt waren, verdrängte der Chef der Liberalen, Justin Trudeau, den konservativen Ministerpräsident, Stephen Harper. Die Wahl war in vielerlei Hinsicht einzigartig.

Zuerst einmal dauerte der Wahlkampf 78 Tage, so lang wie seit 1872 nicht mehr und etwa genauso lang wie die beiden letzten Bundestagswahlkämpfe zusammen genommen.

Wahrscheinlich war es auch die teuerste Wahl in der Geschichte Kanadas. Ministerpräsident Harper und die regierende Konservative Partei waren seit neun Jahren an der Macht gewesen und ließen mit Abstand das meiste Geld in den Wahlkampf einfließen. Durch den Ausruf einer 78-Tage-Wahl verdoppelte Harper die Ausgabeobergrenzen für den Wahlkampf und gab den Konservativen damit einen entscheidenden Vorteil.

Mitte August, als der Wahlkampf Fahrt aufzunehmen begann, hatte die „links von der Mitte“ ausgerichtete Neue demokratische Partei (NDP) in den Umfragen einen Vorsprung von beinahe 10 Prozent vor den Liberalen und Konservativen. Es sah so aus, als wäre die NDP im Begriff, zum ersten Mal in der Geschichte Kanadas die Regierung auf Bundesebene zu bilden.

Kanadas erste Regierungsdynastie

Doch am Wahltag - dem 19. Oktober - katapultierten sich die „zentrischen“ Liberalen von 34 auf 184 der insgesamt 338 Sitze im Parlament. Es war das erste Mal in der Geschichte Kanadas, dass eine Partei in einer einzigen Wahl von einem drittrangigen Status zu einer Mehrheitsregierung überging. Die Sitze der Konservativen wurden von 159 auf 99 reduziert, und die NDP wurde mit gerade mal 44 Sitzen Zeuge einer vernichtenden Niederlage. Elizabeth May, Chefin der Grünen Partei kehrte als einziges Mitglied der Grünen Partei in das Parlament zurück.

In zwei Wochen wird der neue Ministerpräsident, Justin Trudeau, sein neues Kabinett bekannt geben. Als Sohn des ehemaligen kanadischen Ministerpräsidenten, Pierre Trudeau, bilden die Trudeaus Kanadas erste Regierungsdynastie.

Fast zehn Jahre Herrschaft der Konservativen Partei unter Ministerpräsident Stephen Harper sind eine sehr lange Zeit. Es gibt eine Menge junger Erwachsener, die ein Kanada ohne die konservative Regierung nie wirklich gekannt hat, und viele Menschen außerhalb des Landes setzen mittlerweile bestimmte Dinge voraus, die sich jetzt wahrscheinlich ändern werden. Hier seien einige Punkte vorweggeschickt, mit Schwerpunkt auf Kanadas Rolle in der Welt.

Klimawandel und Energie

Wenn Ihnen bei Klimawandel-Verhandlungen der Vereinten Nationen die kanadische Delegation in die Arme läuft, brauchen Sie nicht länger die Flucht anzutreten. Die Tage, an denen Kanada mit dem alleinigen Ziel Präsenz zeigt, die Rahmenkonvention der Vereinten Nationen bezüglich der Klimaänderungen (UNFCCC) zu untergraben, sind (vorerst) vorbei. Ministerpräsident Trudeau hat versprochen, Kanadas Rolle in den Verhandlungen neu zu definieren und beabsichtigt, die Oppositionsparteien sowie die Landespremierminister im Zuge der UNFCCC-Verhandlungen im Dezember nach Paris mitzunehmen.

Die neue liberale Regierung wird wahrscheinlich wieder Gelder für Energieeffizienz und erneuerbare Energien fließen lassen, Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel erhöhen, und viele Umweltmaßnahmen und -verfahren wiederbeleben, die von der Harper-Regierung eingestampft wurden.

In vier Jahren wird es in den Provinzen Kanadas wahrscheinlich eine Art Preis für Kohlenstoff geben. Dennoch äußerte sich Trudeau bislang nur vage darüber, wie genau das aussehen wird. Mit dem Verweis darauf, dass er erstmal den Dialog mit den Provinzen suchen will, weigert sich noch immer, sich auf bestimmte Treibhausgas-Reduktionsziele festzulegen.

Die Wahl birgt also generell eine gute Nachricht, was die Bekämpfung des Klimawandels anbelangt. Wir reden jedoch immer noch von Kanada. Trudeau ist – so wie fast alle Politiker/innen des Landes mit der Ausnahme von der Grünen Partei – noch nicht bereit, das Offensichtliche festzustellen: Es ist unmöglich für Kanada, seinen fairen Anteil bei der Bekämpfung des Klimawandels zu leisten und gleichzeitig zuzulassen, dass die Öl-Gewinnung im Alberta-Teersand wie geplant ausgeweitet werden.

Während des Wahlkampfes brachte Trudeau seine Unterstützung für die von Kanada in die USA verlaufende Keystone-XL-Pipeline zum Ausdruck. Er warf dem bisherigen Ministerpräsident Harper vor, durch dessen abgründige Umweltpolitik die Aussicht auf die nötige Unterstützung für solche Öl-Pipelines sabotiert zu haben. Das mag zwar stimmen, verfehlt jedoch den Punkt. Kanadas Ölindustrie hat kein PR-Problem, sondern ein Verschmutzungsproblem.

Die rücksichtslose Ausweitung der Ölproduktion in Alberta ist schlicht nicht mit einer Welt vereinbar, die versucht, fossile Brennstoffe in den kommenden 40 Jahren allmählich aus dem Verkehr zu ziehen. Eine Menge von Kanadas Öl würde dafür im Boden bleiben müssen, aber leider gibt es so gut wie keine kanadischen Führungskräfte, die bereit sind, offen und ehrlich mit diesem Thema umzugehen – bisher zumindest auch nicht Trudeau. Es ist anzunehmen, dass dieser grundlegende Widerspruch die Energie- und Klimapolitik in Kanada weiterhin bestimmen wird.

Geschlechtsspezifische und reproduktive Rechte

Der neue Ministerpräsident hat unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass von jedem liberalen Parlamentsmitglied erwartet wird, Frauenrechte zu unterstützen. Die Hälfte seiner neuen Kabinettsposten will er mit Frauen besetzen. Während seiner Amtszeit hinderte Ministerpräsident Harper seine sozial-konservativen Abgeordneten zwar daran, die Abtreibungsdebatte in Kanada maßgeblich voranzutreiben. Allerdings kürzte er auch die Mittel für Frauenrechte und Gesundheitsorganisationen und schmälerte kanadisch-internationale Hilfe bei der Unterstützung reproduktiver Rechte im globalen Süden. All dies soll sich nun ändern.

Stärkung indigener Rechte

Trudeau setzt sich dafür ein, eine nationale Untersuchung zu den mehr als 1.200 Fällen vermisster und ermordeter indigener Frauen in Kanada in die Wege zu leiten. Er bemüht sich zudem, die Empfehlungen der kanadischen Wahrheits- und Aussöhnungskommission umzusetzen. Die Kommission widmete sich einer umfassenden Aufarbeitung der schändlichen Regierungspolitik, unter der indigene Kinder aus ihren Familien und Häusern entrissen wurden, um sie in von der Regierung oder der Kirche geführten Schulen zu stecken, in denen sie oft systematisch missbraucht wurden. Ein ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof räumte nach dem Überprüfen der Kommissionsfeststellungen ein, dass Kanadas Handeln eine Form des „kulturellen Völkermords” gewesen sei.

Die neue Regierung wird bei der Erarbeitung oder Umsetzung internationaler Verträgen, die die Rechte indigener Völker fördern, mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Unterstützung zeigen. Es wird sich zeigen, ob der neuamtierende Ministerpräsident bereit ist, eine wahre Beziehung auf Augenhöhe mit Kanadas indigener Bevölkerung einzugehen – von Nation zu Nation.

Syrische Flüchtlinge

Ministerpräsident Trudeau sagte, dass „Kanada unverzüglich 25.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen muss und damit aufhören soll, die Entscheidung weiter hinauszuzögern, damit wir wieder zu dem Land werden, dass wir uns so gerne unter Kanada vorstellen.”

Auch wenn mit Sicherheit gesagt werden kann, dass „das Land, das wir uns so gerne unter Kanada vorstellen” schon immer ein Stück weit von der Realität entfernt war, sagt Trudeau, dass seine Regierung 100 Millionen Dollar zur Beschleunigung der Asylverfahren und weitere 100 Millionen Dollar zur Unterstützung der Hilfsmaßnahmen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen investieren werde.

Evidenzbasierte Entscheidungsfindung

Der Krieg gegen die Wissenschaft in Kanada ist nun hoffentlich vorbei. Staatliche Wissenschaftler werden nicht mehr mundtot gemacht werden, wie dies bisher der Fall war. Die liberale Regierung wird sich möglicherweise sogar für die Ratschläge ihrer Staatsbeamt/innen interessieren.

Darüber hinaus versprach Trudeau, die Langform-Volkszählung (ein umfassendes obligatorisches Volkszählungsdokument, das Ministerpräsident Harper abgeschafft hatte), wieder einzuführen.

Frieden und Sicherheit

Man kann nicht länger davon ausgehen, dass jedes Mal, wenn die Vereinigten Staaten beschließen, in ein anderes Land einzumarschieren, Kanada zu den Waffen greift und in die Schlacht zieht. Man sollte es nicht ausschließen, sich aber auch nicht darauf verlassen.

Ministerpräsident Trudeau setzt sich dafür ein, die Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte in den Vordergrund zu rücken und Kanadas Bombenangriffen gegen den Islamischen Staat (ISIL) zu beenden. Wer weiß, vielleicht wird Kanada sogar wieder mehr Wert auf UN-Friedenseinsätze legen – wir werden sehen.

Es gibt Grund zur Annahme, dass sich Kanada auch für wieder für internationale Abrüstungsbemühungen einsetzen wird, indem es beispielsweise dem internationalen Waffenhandelsabkommen beitritt. Wie Kanada zum Thema nukleare Abrüstung steht, bleibt jedoch weiterhin offen.

Wahlrechtsreform

2011 stimmten mehr als 60 Prozent der Wähler für Parteien mit progressiveren sozialen und ökologischen Plattformen als die Konservative Partei Kanadas, dennoch sicherte sich Ministerpräsident Harper die Mehrheit der Sitze im Parlament. Wenn man die Wahlbeteiligung berücksichtigt, basierte die konservative Mehrheit auf nur etwa einem Viertel der Wahlberechtigten.

Darin lag das Erfolgsgeheimnis der Konservativen Partei in den vergangenen neun Jahren. Ein Kandidat musste in einem bestimmten Wahlbezirk oder Zuständigkeitsbereich die meisten Stimmen gewinnen, jedoch (nach dem so genannten britischen Mehrheitswahlsystem) keine Stimmenmehrheit erlangen. Deshalb betrieben die Konservativen einen rechten Wahlkampf, ließen die progressiveren Parteien die Stimmen unter sich aufteilen, und gewannen so die Wahl.

Viele Kanadier wurden immer unzufriedener mit der Situation und dem Versäumnis der Parteien, etwas dagegen zu tun. Es scheint als seien bei dieser Wahl das erste Mal ein großer Teil der kanadischen Wähler bereit gewesen, strategisch zu wählen – das heißt für die Partei zu stimmen, die die Konservativen am ehesten schlagen kann. Die Liberalen hatten sich in den letzten Wochen des Wahlkampfes schlicht am besten positioniert, um von dem Trend zu profitieren.

Während des Wahlkampfes waren sich alle Oppositionsparteien, darunter auch die Liberalen, einig, dass eine Wahlreform notwendig ist. Trudeau versprach, dass im Falle seiner Wahl dies Kanadas letzte Wahl nach dem Mehrheitswahlsystem sein würde. In vielerlei Hinsicht bestand darin sein allerwichtigstes Wahlkampfversprechen.

Neun Jahre der Konservativen Partei an der Macht haben deutlich gemacht, dass die Kanadier ein Wahlsystem wollen, das die Wahlabsichten der Bürger besser widerspiegelt. Jene Millionen Kanadier, die sich in der Hoffnung der liberalen Sache anschlossen, sie könnten die Konservativen besiegen, verlassen sich auf die Liberalen, um diese wichtige Thematik anzugehen. Wenn die Liberalen in diesem Punkt versagen, wird man hart mit ihnen ins Gericht gehen.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Wahlen in Kanada und erschien zuerst auf der Website unseres Nordamerika Büros.