Wettlauf gegen die Zeit

Rettungsinsel
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Rettungsinsel

Nach nur fünf Einsatztagen hat die Sea Watch Crew fast fünfhundert Menschen gerettet. Das Boot heute ist wieder völlig überladen. An Bord befanden sich Personen mit Knochenbrüchen, eine Schwangere, ein Schwerverletzter und ein kleines Mädchen.

Logbucheintrag drei, 12.07.2015

Die letzten Tage vergingen wie im Fluge. Die Sea Watch Crew hat ihren fünften Rettungseinsatz absolviert. Knapp fünfhundert Menschen wurden aus sehr prekären Situationen gerettet. Teilweise waren die billigen Boote so überladen, dass schon nach kurzer Zeit Wasser eindrang. Anderen Schlauchboten entwich schon nach wenigen Stunden die Luft aus den Kammern.

Das Wetter ist zum Glück weiterhin sehr gut, was die nötigen Aktionen vereinfacht. So war es bei einem Boot nötig, alle Menschen auf einen zu Hilfe geeilten Tanker zu evakuieren. Das Boot war schon seit mehr als zwei Tagen unterwegs und die Menschen an Bord sehr geschwächt. Die vorderen Luftkammern verloren ständig an Druck und auf der linken Seite war ein Teil der Kammern undicht. Wasser drang durch die schlecht installierten Öffnungen für die Motoraufhängung.

Die erste und wichtigste Aktion war, den Insassen des Bootes schnellstmöglich Rettungswesten zu bringen, damit eventuelle Stürze ins Wasser nicht unweigerlich tödlich enden. Im Anschluss mussten wir mit dem Kapitän des knapp 300 Meter langen und über 20 Meter hohen Tankers eine bestmögliche Rettungsstrategie abmachen. Leider hatte die Crew des Tankers keinerlei Erfahrung in einem solchen Unterfangen und auch wir konnten nur auf die Erfahrungen der letzten Tage zurückgreifen.

Für mich als Einsatzleiter war es am wichtigsten allen zu vermitteln, dass es keinen Grund zur Panik gibt, alle ruhig bleiben sollten und wir sie alle sicher an Bord bringen würden. Mit unserem kleinen Boot von 4,70 Metern zogen wir das doppelt so große Flüchtlingsboot an die Gangway des Tankers und konnten so nach und nach Einen nach dem Anderen sicher auf das riesige Schiff bringen. Dort wurden die Flüchtlinge von einem unserer Crewmitglieder erwartet und willkommen geheißen. Im Anschluss wurde noch ein kurzer medizinischer Check up gemacht, um sicherzustellen, dass es keine schwerwiegenden oder leicht übertragbaren infektiösen Erkrankungen gab. Dies war eine Bedingung des Tankerkapitäns gewesen. Eigentlich kein Problem, aber für mich war das Borden der Gangway mit meiner Höhenangst an sich schon ein Abenteuer.

Uns war zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass sich fast alle Schiffe aus der Region nahe der libyschen Küste zurückgezogen hatten. Vermutlich aufgrund der Drohungen von Rebellengruppen, einlaufende Schiffe in libyschen Häfen anzugreifen. Aber auch die großen Hilfsschiffe von Ärzte ohne Grenzen waren nicht mehr in der Region. Sie müssen die zuvor aufgenommenen Menschen in italienischen Häfen absetzen. Von Triton und Frontex war weit und breit ebenfalls keine Spur. Eine wirklich sehr bedrückende Situation, da unser Schiff mit seinen 21 Metern in diesem Meer plötzlich so unendlich klein erschien. Wie müssen sich da erst die Menschen auf den völlig überfüllten Booten fühlen?

Schon am nächsten Morgen kamen wir wiederum zum  Einsatz. Wir näherten uns mit dem Dingi einem Boot, welches in akuter Gefahr war. Die Seiten des mit 116 Personen völlig überladenen Bootes gaben schon nach und es befanden sich Personen mit Knochenbrüchen, eine Schwangere, ein Schwerverletzter und ein kleines Mädchen an Bord.

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Ein Wettlauf gegen die Zeit begann. Zuerst mussten die Rettungswesten richtig angelegt und überprüft werden, dann wurde das kleine Mädchen auf die Sea Watch gebracht und die Rettungsinseln wurden klargemacht. Die Inseln wurden zum sinkenden Boot geschleppt und den Menschen von dort ohne Panik in die Inseln geholfen. All das in der glühenden Hitze und ohne wirklich ausgeruht zu sein.

Die Aktion verlief sehr geordnet und zum Glück hielt das Schlauchboot durch die Reduktion der Last lang genug. Zuletzt konnten wir nach kurzer Untersuchung im Schlauchboot einen Schwerverletzten mit einer Rettungstrage auf unser Dingi bringen und von dort auf die Sea Watch, wo er notversorgt und stabilisiert wurde. Das geschah in der Messe, auf dem einzigen Tisch, den wir schon theoretisch dafür vorgesehen hatten. Zum Glück kam zwei Stunden später die italienische Küstenwache aus Lampedusa, um alle Flüchtlinge zu übernehmen und dorthin zu bringen. Die Mutter des kleinen Mädchens war überglücklich, ihre Tochter, die sich hier an Bord schon beliebt gemacht und reichlich Kekse und Aufmerksamkeit erhalten hatte, wieder in Empfang zu nehmen.

Auch der Patient auf der Trage war froh, wieder bei seiner Frau sein zu können, um nun per Schnellboot in das nächste Krankenhaus transportiert zu werden. Er berichtete in Libyen massiv zusammengeschlagen worden zu sein, da er kein Geld mehr hatte, ihm jedoch nicht geglaubt wurde und dies durch Drohungen und später Tritte doch noch aus ihm herausgepresst werden sollte. Andere berichteten, man habe ihnen aus demselben Grund die Hände gebrochen oder anderweitig Gewalt angetan. Es muss die Hölle gewesen sein.

Somit war die überschwängliche Freude über die Rettung auch sehr gut nachzuempfinden. Die gesamte Crew wünschte sich von Herzen, dass allen diesen Menschen mit Achtung, Respekt und Offenheit begegnet würde. Wohl wissend, dass Europa und auch Deutschland ihnen überwiegend mit Argwohn und Ablehnung gegenübertreten wird. Und das sich die wenigsten Träume, die Grund ihrer Flucht hierher sind, wirklich realisieren werden.

In jedem Fall ist es ein Hohn, dass diese Gegend des Mittelmeeres vermutlich die bestüberwachte der ganzen Welt ist und die Sea Watch aber momentan das einzige Schiff, welches aktiv Menschen aus Seenot rettet. Was ist aus den vollmundigen Beteuerungen unserer Politiker geworden? Warum ist es möglich alles zu aktivieren um Militär auszurüsten und völlig unnütz über die Bekämpfung von Schleppern "aufzuklären", während hier eine akute, humanitäre und von uns mitverschuldete Krise stattfindet, für die Europa keine Verantwortung übernehmen will?

Ich wünsche mir, dass sich unsere Entscheidungsträger für einige Tage hierher auf das Meer begeben. Vielleicht in einem solch kleinen Boot wie die Sea Watch. Oder in einem Schlauchboot mit 99 anderen Personen.

In unserem Logbuch Mittelmeer berichten Crewmitglieder der MS Sea-Watch von ihrem Einsatz an Bord und ihrer Mission vor der libyschen Küste. Die private Initiative um das Rettungsschiff leistet selbst Nothilfe und fordert die Rettung von Flüchtlingsbooten in Seenot ein.