Ukraine: Schwierige Mehrheitsverhältnisse nach der Parlamentswahl

Torten-Diagramm: Sitzverteilung im neuen Parlament
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Wer koaliert mir wem? Noch versuchen die beiden größten Fraktionen, weitere Abgeordnete für sich zu gewinnen

Nur ein zweiter Platz: Petro Poroschenkos Block hat die Mehrheit in der Rada verfehlt. Was bedeutet das für die künftige Regierungsbildung? Eine Prognose von Andreas Stein.

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine haben einige Überraschungen, jedoch keinen eindeutigen Sieger gebracht. Die von der Gesellschaft gewünschte Erneuerung des Abgeordnetenkorpus ist zu fast zwei Dritteln gelungen. Wie zu erwarten war, haben dabei die westlich orientierten Wahlprojekte bei einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung die meisten Stimmen erhalten. Nun könnten sie sich theoretisch an die dringend notwendige Umgestaltung des Landes machen. Präsident Petro Poroschenko und Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk müssten dafür allerdings eng zusammenarbeiten – was  sie bisher schon nicht vermochten. Die Konflikte zwischen Ministerpräsident und Präsident aus der Zeit nach der Orangen Revolution 2005 drohen sich zu wiederholen.

Nur Rang zwei für die Poroschenko-Partei

Eigentlich hatten sich Präsident Petro Poroschenko und die Führungsriege der extra in „Block Petro Poroschenko“ umbenannten Präsidentenpartei ein anderes Wahlergebnis vorgestellt. 30 bis 35 Prozent bei den Parteilisten mit entsprechend mindestens 85 Mandaten und dazu noch mehr als 120 Direktmandate sollten eine solide Basis für eine Koalitionsbildung, oder gar sogar eine eigenständige Mehrheit verschaffen. Von den insgesamt 423 Mandaten werden im ukrainischen Wahlrecht 225 über die Parteilisten verteilt, 198 weitere Mandate werden direkt vergeben. Ausgleichsmandate gibt es nicht. Für die Wahl des Ministerpräsidenten braucht es schließlich die Stimmen von 226 Abgeordneten – auch eine so deutliche Mehrheit erschien Poroschenko und seinen Mitstreitern möglich.

Doch der Traum vom propräsidialen Parlament ist vorerst ausgeträumt. Beide Wahlprojekte erzielten nur etwa 22 Prozent und scheinen bei der Koalitionsbildung nicht ohne einander auszukommen. Die Präsidentenpartei muss sogar den symbolreichen ersten  Platz an die Volksfront von Arsenij Jazenjuk abtreten. Dieser kann damit den Posten des Ministerpräsidenten weiter für sich beanspruchen. Poroschenkos Bonus von der Präsidentschaftswahl, die er mit über 50 Prozent in der ersten Runde gewann, scheint aufgebraucht. Geschadet hat dem 48-Jährigen vor allem, dass er nicht den versprochenen Frieden in das Land bringen konnte. Dennoch wird seine Partei dank Direktmandaten wohl eine Fraktion von mindestens 150 Abgeordneten bilden können, zu der auch Präsidentensohn Olexij gehören wird.

Mögliche Sitzverteilung

Nach der Auswertung von 99,58 Prozent der Wahlprotokolle ergibt sich folgende Zusammensetzung des Parlaments:

Ministerpräsident Jazenjuk populärer als Poroschenko

Von Poroschenkos Problemen profitierte hauptsächlich die „Volksfront“. Für den 40-jährigen Arsenij Jazenjuk ist diese Wahl daher auch und vor allem als persönlicher Erfolg zu sehen: Trotz der harten Sparmaßnahmen und der nicht abnehmenden Korruption wollte ein großer Teil der Wähler ihn weiter als Ministerpräsidenten sehen. Insbesondere das eine Drittel der Wähler, das bis zum Wahlsonntag unentschlossen war, dürfte dem Kontinuitätsargument auch in Bezug auf das internationale Renommee des Ministerpräsidenten gefolgt sein. Insgesamt zielte seine Wahlkampagne auf das Image des Machers ab, das ihm – auch wenn es kaum etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat – wohl von den Wählern abgekauft wurde. Die Fraktion der Volksfront dürfte anfänglich über etwas mehr als 80 Mandate  verfügen.

Weiterer Gewinner der Wahl und große Hoffnung ist die Liste der Partei „Selbsthilfe“ (Samopomitsch) des Lwiwer Bürgermeister Andrij Sadowyj, die etwa elf Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Diese reklamierte für sich der Forderung des Maidans nachzukommen, neue Gesichter in die Politik zu bringen. Tatsächlich sind bis auf Sadowyj, der nur Nummer 50 der Liste belegt und in Lwiw bleiben wird, kaum wirklich bekannte Personen enthalten. Ihr bestes Ergebnis hat die „Selbsthilfe“ als zweitstärkste Partei in der Hauptstadt Kyjiw eingefahren. Hier wurde die Partei mit mehr als 21 Prozent offenbar vor allem von den Trägern des Maidans der regierungskritischen, internetaffinen Mittelschicht gewählt.

Mögliche Opposition

Etwas mehr als neun Prozent erzielte der „Oppositionsblock“, der vor allem aus Vertretern der ehemals regierenden Partei der Regionen besteht. Diesem folgt die vor der Wahl hochgehandelte „Radikale Partei“ von Oleh Ljaschko mit etwas mehr als sieben Prozent und die „Vaterlandspartei“ der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko. Während der Oppositionsblock zusammen mit „parteilosen“ direkt gewählten Abgeordneten eine Fraktion von bis zu 50 Abgeordneten bilden könnte, werden die Vaterlandspartei und die Radikale Partei nur auf 19 bzw. 22 Abgeordnete kommen. Vermutlich wird die erst 53-Jährige Tymoschenko ihre politische Karriere weiter in der Hoffnung fortsetzen, bei einem Scheitern von Poroschenko und Jazenjuk wieder an die Macht gelangen zu können. Für Ljaschko und auch für Tymoschenko stellt der Ausgang der Wahl eine herbe Enttäuschung dar, weil sie beide mit einem zweistelligen Ergebnis gerechnet hatten. Tymoschenko konnte wohl aufgrund des Weggangs einer großen Zahl von sichtbaren Mitstreitern zu Jazenjuk nicht einmal das Resultat der Präsidentschaftswahl vom Mai wiederholen.

Den Wiedereinzug in das Parlament verpasst hat dabei die rechtsradikale „Freiheits-Partei“ (Swoboda). Mit nur 4,73 Prozent scheiterte sie an der Fünf-Prozent-Hürde. Dennoch werden rund ein Dutzend Rechtsradikale im Parlament vertreten sein. Darunter sind der Parteichef des Rechten Sektors Dmytro Jarosch und der Partei-Pressesprecher Boryslaw Beresa. Letzterer gelangte ebenso wie der White-Power-Vertreter Andrij Bilezkyj über ein Kyjiwer Direktmandat ins Parlament. Insgesamt hätte sich damit zwar damit die Zahl der Rechtsextremen nach den 38 Swoboda-Leuten 2012 verringert, doch ziehen nun vor allem Militante in die Rada ein.

Wahlbeteiligung und Wahlbeobachter

Bedenklich niedrig ist mit 52,42 Prozent die Wahlbeteiligung gewesen. Bis auf die drei galizischen Gebiete Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Ternopil, in denen die Wahlbeteiligung bis zu 70 Prozent erreichte, beteiligten sich prozentual und absolut weniger Ukrainer an diesen Parlamentswahlen als im Jahr 2012, aber auch weniger als bei den Präsidentschaftswahlen im Mai. Vor allem in den russischsprachigen Gebieten im Osten und Süden fiel die Beteiligung sogar unter die 50-Prozent-Marke. Damit zog es mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Regionen Charkiw, Dnipropetrowsk, Cherson, Odessa, Saporischschja und auch im westlichsten Gebiet der Transkarpaten vor, den Wahlen fernzubleiben. Offenbar stellt keine der angetretenen Parteien für sie eine Option dar. Besonders bedenklich ist der Wert im Gebiet und vor allem in der Stadt Odessa, wo nicht einmal 40 Prozent zu den Urnen gingen. Die neue Regierung hat in dieser Region nach den Ereignissen des 2. Mais offensichtlich ein massives Legitimationsproblem, von dem auch die ehemaligen Regierungsparteien nicht profitieren können.

Von Wahlbeobachtern wurde diesen Parlamentswahlen allgemein eine bessere Qualität als 2012 bescheinigt, als nach dem gleichen gemischten  System abgestimmt wurde. Es gab gemäß der Wahlbeobachterorganisation Opora etwa ein Drittel weniger Beschwerden. Dennoch sind auch wieder Fälle von Wählerstimmenkauf und Fälschungsversuche dokumentiert worden. Gegen einige Ergebnisse sind auch ähnlich wie 2012 Klagen zu erwarten, so dass es zur Ansetzung von Nachwahlen in einzelnen Direktwahlkreisen kommen könnte. Außerdem bemängelten viele Beobachter die Fernsehansprachen von Ministerpräsident Jazenjuk und Präsident Poroschenko am Vorabend der Wahl, die eindeutige Elemente von Agitation trotz gesetzlichem Verbot enthielten.

Schwierige Koalitionsbildung

Nach dem gescheiterten Plan des propräsidialen Parlaments wird sich die Mehrheitsbildung schwieriger als vom Präsidenten gedacht entwickeln. Die ursprünglich anvisierte beständige Koalition mit einer verfassungsändernden 300-Stimmen-Mehrheit dürfte zudem nicht erreichbar sein. Damit geraten die lang versprochenen Verfassungsreformen beispielsweise über eine Dezentralisierung und eine neues Austarieren der Kompetenzen von Präsident und Regierung in Gefahr. Für eine neue Verfassung muss sich in zwei Abstimmungen in zwei getrennten Sitzungsperioden eine 300-Stimmen-Mehrheit finden. Übereinstimmend deklarieren alle potenziellen Koalitionspartner, dass die Hauptaufgabe der neuen Regierung in der Korruptionsbekämpfung und der Anpassung der ukrainischen Gesetzgebung an die Vorgaben des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union besteht.

Wahrscheinlichste Koalitionspartner sind der Poroschenko-Block und die Volksfront. Zusammen kommen sie momentan auf mehr als 200 Stimmen. Für die Wahl eines Ministerpräsidenten, der wohl Arsenij Jazenjuk heißen wird, ist jedoch eine Mehrheit von 226 Stimmen erforderlich. Bei den laufenden Verhandlungen reklamieren sowohl der Poroschenko-Block als auch die Volksfront für sich das Recht, Zentrum der neuen Koalition zu sein. Diese Rhetorik zielt wohl vor allem darauf ab, weitere Abgeordnete in die eigene Fraktion zu ziehen, um am Ende stärkste Kraft in der Koalition zu werden und eine größere Zahl an Posten zu bekommen. Insofern sind in den nächsten Tagen vor allem Verhandlungen mit den bisher fraktionslosen Abgeordneten zu erwarten. Traditionell hätte der Präsident dabei die besseren Karten, doch ist der symbolische Sieg Jazenjuks nicht zu unterschätzen. Vor allem jüngere und auch radikaler gestimmte Abgeordnete könnten seiner Fraktion zuneigen, die er in die Nähe von hundert Abgeordneten bringen könnte. Nicht zuletzt ist davon auszugehen, dass es finanzielle Anreize für einen Beitritt zu einer Fraktion geben wird. Mit den wohl mehr als 150  Abgeordneten der Präsidentenpartei wäre damit sogar eine Zweierkoalition denkbar. Nicht zuletzt dürften dabei jedoch Sponsoren der Direktmandatsträger ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Hier zeichnet sich eine Konfrontation zwischen der Gruppe Firtasch-Ljowotschkin-Boiko und der von Kolomoiskyj ab, für die sich ihre Unterstützung auszahlen muss.

Der dritte mögliche Koalitionspartner der Selbsthilfe dürfte erst einmal eine abwartende Haltung einnehmen. Für den 46-jährigen Sadowyj, dem auch Präsidentschaftsambitionen nachgesagt werden, und seine Leute wäre eine gewisse Distanz zur zukünftigen Regierung eher von Nutzen als eine Mitarbeit auf der Ministerialebene. Sie stehen vor dem ewigen Dilemma neuer Kräfte. Sobald sie sich in die Regierungsarbeit einbinden lassen und Kompromisse eingehen müssen, wenden sich Wähler enttäuscht ab, bevor die Regierungsbeteiligung auch Vorteile für die zukünftigen Stammwähler bringt. Die Rolle der konstruktiven Mehrheitsbringer wäre eigentlich für sie daher von Vorteil. Dennoch ist davon auszugehen, dass die rund 30 Abgeordneten Teil einer der möglichen Koalitionsvarianten sein wird.

Angesichts der Vorgeschichte der Protagonisten ist dabei zumindest denkbar, dass die Präsidentenpartei oder die Volksfront eine Koalition ohne den jeweils anderen Partner bildet. Konstellationen dieser Art dürften jedoch die Zeit der unsicheren Abstimmungen im vorhergehenden Parlament fortsetzen. Rein rechnerisch ist diese Möglichkeit jedoch nicht auszuschließen. Vor allem ein Zusammengehen von Volksfront, Vaterlandspartei, der Radikalen Partei und der Selbsthilfe mit Direktmandatsträgern ist in einer späteren Phase möglich. Sollten sich die Konflikte zwischen Jazenjuk und Poroschenko verschärfen, könnte sich die Bedeutung des Oppositionsblocks erhöhen, der eine Minderheitsregierung auch tolerieren kann. Vorerst ist allerdings wohl eine Kooperation von Jazenjuks und Poroschenkos Wahlprojekten unvermeidlich.

Regierungsbildung

In der neuen Regierung dürfte Präsident Poroschenko bei seiner Quote nichts ändern. Außenminister Pawlo Klimkin und der erst kurz vor der Wahl eingesetzte Verteidigungsminister Stepan Podolak bleiben wohl weiter im Amt. Hoffnungen auf den Erhalt ihres Postens können sich auch Innenminister Arsen Awakow und Justizminister Pawlo Petrenko von der Volksfront machen. Von Präsidentenseite ist zu erwarten, dass die Nummer elf seiner Liste Serhij Kwit wieder das Bildungsministerium übertragen bekommt. Damit dürfte die konservative Bildungspolitik mit Schwerpunkt auf einer «patriotischen Erziehung» eine Fortsetzung erfahren. Olha Bohomolez, die Nummer zwei der Liste, könnte zudem Anspruch auf das Gesundheitsministerium erheben, was sie unmittelbar nach dem Maidan noch abgelehnt hatte. Eine Frage in den weiteren Koalitionsverhandlungen wird zumindest den Ankündigungen der Präsidentenpartei nach auch die Zahl der zukünftigen Ministerposten sein. Die Hauptkonfliktlinie liegt dabei wohl bei der Besetzung von Finanz-, Wirtschafts- und Energieministerium, die als Schlüsselministerien bei der Verwaltung von Geldströmen gelten. Finanzminister Olexander Schlapak hat bereits angekündigt, nicht mehr für den Posten zur Verfügung zu stehen. Energieminister Jurij Prodan, der als Mann Julija Tymoschenkos gilt, dürfte ihm folgen. Das Wirtschaftsministerium ist seit dem Rücktritt von Pawlo Scheremeta unbesetzt.

Eine große Frage stellt auch dar, wer den Posten des Parlamentspräsidenten erhält. Amtsinhaber Olexander Turtschynow von der Volksfront scheint sich auf dem Posten wohlzufühlen, doch wird die Präsidentenpartei, falls sie zugunsten von Jazenjuk auf den Ministerpräsidentenposten verzichtet, auf einem eigenen Parlamentschef bestehen. In der Presse werden hierfür seit längerem der 49-jährige Parteichef Jurij Luzenko und auch Vizeministerpräsident Wolodymyr Hroisman gehandelt. Dem 50-jährigen Turtschynow könnte wiederum der vakante Posten des Sicherheitsratschefs angeboten werden.

Fazit

Die vergangene Parlamentswahl hat die Mehrheitsbildung trotz einer „proeuropäischen“ und „proukrainischen“ Ausrichtung nicht einfacher gemacht. Weder die Partei von Poroschenko noch die von Jazenjuk können einfach eine Koalition bilden und ihre Agenda durchsetzen. Sie sind gezwungen zusammenzuarbeiten und Kompromisse einzugehen. Die Erfahrungen der letzten Monate und seit der Unabhängigkeit lassen dabei jedoch erwarten, dass es nicht zu einer dauerhaften Einigung kommen wird und recht bald, trotz demonstrativer Einigkeit in der Öffentlichkeit, eine Politik der gegenseitigen Behinderung zum Tragen kommt. Für die ukrainische Gesellschaft könnte allerdings eine gegenseitige Blockade von Ministerpräsident und Präsident in der Katastrophe enden. Die gewaltigen sozio-ökonomischen Probleme und fehlende Politikangebote haben bereits jetzt in den von Russlands Präsident Wladimir Putin erwähnten potenziellen Gebieten „Neurusslands“ zu einer noch größeren Wahlenthaltung geführt. Ein Scheitern der Regierung in Kyjiw, worauf im Osten Russland und die Separatisten warten und hinarbeiten, würde zu einer weiteren Radikalisierung der Gesellschaft führen und Nationalisten beider Seiten weiter Auftrieb geben.