Asma Jahangir – ein bedeutungsvolles Leben, ein inspirierendes Erbe

Zu Ehren von Asma Jahangir, Anwältin, Menschenrechtsverteidigerin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises 2014.

Asma Jahangir asks a question during Human Rights Day Event. 10 December 2012. Photo by Jean-Marc Ferré

Dicht gedrängt stehen die Arbeiter auf dem Feld am Stadtrand von Lahore und warten auf den Auftritt der Frau aus der Stadt. Sie kauern auf dem Boden, ihre Augen düster und hoffnungslos, die tristen Grau- und Brauntöne ihrer Kleidung eins geworden mit der Erde, aus der sie Ziegelsteine formen und in Bhattas brennen - in Brennöfen, mit denen die Felder im Punjab und Upper Sindh übersät sind. Für diese Knochenarbeit werden die Arbeiter mit Sachleistungen vergütet. Das führt dazu, dass sich Menschen über Generationen hinweg verschulden, da der traditionelle informelle Wirtschaftssektor mittlerweile zu einem bargeldbasierten System übergangen ist.

Die Frau, auf die sie warten, ist Asma Jahangir, eine zierliche Gestalt mit durchdringendem Blick und kurzen schwarzen Haaren. Mit Hilfe ihres Fahrers klettert sie auf das Dach eines Jeeps. Als ihre dröhnende Stimme mit bedächtigen Pausen bei den kauernden Bhatta-Arbeitern ankommt, „werden sie lebendig“, erinnert sich die holländische Rundfunkjournalistin Babette Niemel, die gemeinsam mit Asma zur Kundgebung gekommen war.

Es war ein kalter Wintertag Anfang 1989. Auf der einstündigen Autofahrt zum Feld hatte Asma Kaffeebecher und Butterbrote herausgeholt. Mittags waren sie wieder zurück in Asmas Büro, wo sie sich sofort wieder an die Arbeit machte.
Das war Asma: Unglaublich fleißig und trotz aller Belastungen und vollem Terminkalender stets eine fürsorgliche und aufmerksame Gastgeberin.

Die Kundgebung der Bhatta-Arbeiter, auf der Asma an diesem Tag eine Ansprache hielt, kann man wohl als den Moment festmachen, in dem sie zu einer politischen Leitfigur wurde, meint Dr. Mubashir Hasan, ehemaliger Finanzminister und Gründungsmitglied der unabhängigen Human Rights Commission of Pakistan (HRCP), die Asma zusammen mit einer Reihe weiterer bedeutender Persönlichkeiten 1986 ins Leben gerufen hatte.   
 
Für den Erfolg der HRCP als stabile und zuverlässige Institution zeichnen viele Personen verantwortlich. Aber es war Asmas beispiellose Fähigkeit, als starke Führungspersönlichkeit mit gutem Beispiel voranzugehen und andere auf ihrem Weg mitzunehmen, der letztlich die Richtung vorgab. Ihr Aktivismus in Verbindung mit ihrer Anwaltstätigkeit führten 1992 zur Verabschiedung des wegweisenden Gesetzes zur Aufhebung der Schuldknechtschaft - ein Schritt hin zur Beendigung des Systems der Verschuldung von Generationen, das viele Menschen nach wie vor versklavt.  

Während ich in jenen Jahren über diese Themen berichtete, begann ich mich, ehrenamtlich bei der HRCP zu engagieren. 1993 überredete mich Asma, bei den HRCP Wahlen zu kandidieren. Sie setzte sich über mein Zögern hinweg, nahm mich an die Hand und stellte mich jedem leitenden Ratsmitglied einzeln vor.

Dadurch, dass ich drei Mal in Folge für jeweils zwei Jahre in dieses politische Entscheidungsgremium gewählt wurde, bekam ich die Gelegenheit, an Sitzungen teilzunehmen, die durch ein hohes Maß an Debatten und Diskussionen gekennzeichnet waren. Hautnah sah und erlebte ich Asmas Visionsschärfe, Überzeugungskraft und Fähigkeit, Menschen mit unterschiedlichen Sichtweisen zusammenzubringen und sich auf einen kleinen gemeinsamen Nenner zu einigen.

Durch ihr starkes Gespür für Medienwirksamkeit war sie ihrer Zeit weit voraus.  Sie veröffentliche Presseerklärungen über wichtige rechtliche Themen, mit denen sie sich beschäftigte, und durchkreuzte damit die Heuchelei und die Verbreitung von irreführenden Nachrichten. Im Unterschied zu denjenigen, die stets ihre eigenen Errungenschaften in den Vordergrund stellten, machte Asma öffentlich nie einen Hehl aus ihren eigenen Leistungen, Preisen oder Anerkennungen.

Die Fälle, die Asma als Anwältin übernahm, trafen direkt ins Herz der sozialen Veränderungen und Konflikte, die Pakistan in der Zeit nach Mohammad Zia durchlebte. Da die Menschen sich ihrer Rechte zunehmend bewusst wurden, geriet sie damit ins Fadenkreuz derjenigen, die sich durch diese Veränderungen bedroht fühlten. Die Kräfte des Status-Quo fingen an, uralte Waffen auszugraben, wie zum Beispiel den Vorwurf der „Blasphemie“, um unterschiedliche Religionsgemeinschaften zu unterdrücken, und „Tradition“ und „Religion“, um den sozialen Status der Frauen unverändert beizubehalten.

1993 übernahm Asma die Verteidigung von Salamat Masih, einem 11-jährigen analphabetischen, christlichen Jungen, der angeklagt wurde, „blasphemische“ Wörter auf die Mauer einer Moschee geschrieben zu haben. Er und sein Vater, Rehmat, und sein Onkel, Manzoor, die ebenfalls angeklagt wurden, wurden während der Gerichtsverhandlung bedroht. Am 12. April 1994 eröffneten bewaffnete Angreifer das Feuer, als sie das Gerichtsgebäude verließen. Manzoor starb im Kugelhagel, Salamat, Rehmat und einige andere wurden verletzt.
Der Anschlag auf Salamat Masih blieb kein Einzelfall. Asma sah sich ebenfalls massiven Bedrohungen ausgesetzt. Überall in Lahore tauchten bunte Leuchtaufkleber und Plakate auf und bezeichneten Asma als ‚Frevlerin‘ und forderten die ‘Gläubigen’ auf, sie ausfindig zu machen und zu töten. Mindestens einmal tauchten diese Aufkleber auf unerklärliche Weise als Einlage in der Morgenausgabe der englischsprachigen Tageszeitung ‘Dawn’ auf.

In einem handschriftlich verfassten Schreiben drohte man ihr damit, sie zu jagen und zu töten, was der Verfasser als seine Lebensaufgabe ansah. Aber sie bekam auch noch einen anderen Brief – von Zarteef Afridi, einem zierlich gebauten, gut rasierten Stammesangehörigen der Afridi, der HRCP-Koordinator im Gebiet Khyber Agency war. Er erklärte sich bereit, mit einer bewaffneten ‚Lashkar‘ (Bande) nach Lahore zu kommen und sie zu beschützen. Asma lehnte höflich ab.

In dieser Zeit der Bedrohungen und Einschüchterungen war Afridis Unterstützungsbrief eine Botschaft der Hoffnung, insbesondere da er aus einem Gebiet kam, das für religiösen Konservatismus bekannt war. Die HRCP bot denjenigen eine Plattform, die bereit waren, sich sogar in traditionell konservativen Gegenden rückschrittlichen Tendenzen entgegenzustellen. (Tragischerweise wurde Afridi 2011 umgebracht).

Am 9. Februar 1995 verurteilte das Gericht Salamat und Rehmat zum Tode. Salamat sagte zu Asma: “Ich ruhe in Gottes Händen. Ich bin sicher, dass Gott Gerechtigkeit walten lassen wird”.

“Er schien schockiert und dennoch ruhig, aber als ich meinen Arm um ihn legte, zitterte er”, berichtete Asma dem britischen Autor Danny Smith (Shouting Into the Silence: One Man's Fight for the World's Forgotten; Lion Hudson, 2013; S. 114-117).

Als bekannt wurde, dass Asma Berufung gegen das Urteil beim Obersten Gerichtshof von Lahore einlegen würde, forderte ein gewaltbereiter Mob am 16. Februar ihre Einbeziehung in die Anklage. Aufgebrachte Männer griffen ihr Auto an und zerschlugen die Scheiben. Glücklicherweise befand sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Fahrzeug. “Deinen Fahrer haben wir gerettet, dein Auto konnten wir jedoch nicht retten”, sagten ihr Freunde hinterher.   

Begleitet von einem kurz zuvor eingestellten Leibwächter verließ Asma das Gericht unter Polizeischutz. Unerschrocken trieb sie das Berufungsverfahren voran. Am 23. Februar wurde die Klage gegen Salamat und Rehmat abgewiesen mit der Begründung, dass Analphabeten die blasphemischen Wörter nicht geschrieben haben konnten. Asma betrachtete den Freispruch jedoch nicht als Sieg.
“Fangt jetzt nicht an zu feiern”, mahnte sie. “Es ist nicht vorbei. Die Extremisten werden Rache suchen und ich bin sicher, dass es ähnliche Prozesse geben wird. Das Blasphemie-Gesetz muss geändert werden.” Mit beidem sollte sie Recht behalten.

Mit dieser Position machte sie sich noch mehr Feinde. Im Oktober drangen acht bewaffnete Einbrecher in ihr Haus ein und verprügelten ihren Bruder und seine Frau. Asma, die nebenan bei den Schwiegereltern wohnte, war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause. Als die Sicherheitskräfte das Feuer eröffneten und die Polizei eintraf, flohen die Männer. Sie ließen ein gestohlenes Fahrzeug zurück gefüllt mit Seilen, Baumwolle, Messern und Waffen. Die Kopie eines Ausweises im Fahrzeug führte noch am selben Abend zu ihrer Verhaftung.
Asma suchte die Männer auf dem Polizeirevier auf, denn sie sagte: „Ich wollte ganz sicher gehen; sie hatten schließlich lediglich von mir gehört… Man hatte ihnen gesagt, dass es lohnenswert sei, mich zu töten.“ Im Gespräch mit ihnen merkte Asma, „dass die Männer Schachfiguren in der Hand von Mächtigen, von Führern konfessioneller Gruppen waren, die Samen des Hasses in die Köpfe junger Menschen einpflanzten… Sie hatten von mir das Bild einer Art Dämonin; als ich ihnen aber in menschlicher Gestalt gegenübertrat, fragten sie sich, ob das Bild, das ihnen eingetrichtert worden war, wirklich stimmte.“ (Youtube, Martin Ennals Award).
Aus Sicherheitsgründen schickte Asma ihre Kinder auf Internatsschulen ins Ausland. Sie vermisste sie schrecklich, erwog aber nie eine Abkehr von ihrem Weg.

Die zu Tage tretenden gesellschaftlichen Veränderungen führten dazu, dass auch junge Menschen unterschiedlichster Herkunft zunehmend Traditionen aufbrachen. Asma blieb ihrer von Prinzipien geleiteten, auf Grundrechten basierten Position treu. Die konservative Lobby war neuerlich erzürnt, als sie 1997 den Fall “Saima Waheed Love Marriage Case” übernahm.

Saima Waheed Ropri, eine 22-jährige BWL-Absolventin und Tochter eines bekannten Religionsführers, hatte heimlich den Privatlehrer ihres Bruders geheiratet. Sie blieb im Haus ihres Vaters wohnen in der Hoffnung, ihrer Familie davon erzählen zu können und letztlich Unterstützung für ihre Entscheidung zu bekommen. Als sie erfuhr, dass die Familie einen anderen Mann zur Heirat für sie ausgesucht hatte, legte sie ihre Burka an und floh in einem Taxi zur AGHS, der ersten, 1980 gegründeten, reinen Anwältinnenkanzlei Pakistans. Die Buchstaben stehen für die Initialen der Gründerinnen: Asma Jahangir, ihre Freundinnen Gul Rukh und Shehla Zia, sowie ihre jüngere Schwester Hina Jilani.    

Asma übernahm den Fall, wie sie auch sonst stets Fälle übernahm, in denen Menschen ihre Grundrechte ausüben wollten. Die AGHS betrieb ebenfalls die Dastak, eine Zufluchtsstätte für Frauen. Wie viele anderen Mandantinnen der Kanzlei wurde auch Saima dort untergebracht. 
 
Die Propagandamaschine gegen Asma begann erneut auf Hochtouren zu laufen. Ihre Gegner warfen ihr vor, Saima korrumpiert zu haben. Die „Beweismittel“, die sie zur Untermauerung dieser Behauptung anführten, waren u.a. Saimas neue Frisur, ein Pagenkopf, und Jeans, die sie im Gericht mit ihrer Kurta anstatt des traditionellen Shalwar trug.

„Ich habe zu Hause auch immer Jeans getragen“, sagte Saima und erklärte mir, dass ihr Vater das nicht wusste, da er nie die Haushälfte der Frauen betrat. Und was ihre Frisur anging, diese hatte ihr eine andere Frau im Dastak gemacht.

Der Fall löste eine hitzige Diskussion über das Recht einer erwachsenen muslimischen Frau aus, sich selbst ihren Ehemann auszusuchen. Er brachte den Zusammenprall der Kulturen in einer traditionellen, im raschen Wandel begriffenen Gesellschaft zu Tage, insbesondere in den städtischen Gebieten. Saimas Vater behauptete, dass in der religiösen Sekte seiner Familie eine Frau nicht ohne die Zustimmung ihres Vormunds heiraten dürfe, “noch nicht einmal, wenn sie 60 Jahre alt ist”. Das hatte natürlich mehr mit Traditionen als mit Religion zu tun.
Das Gericht ließ Saimas Ehe bestehen. Aber wie auch im Fall von Salamat Masih war dies kein zweifelsfreier Sieg für sie. Das Paar fürchtete um sein Leben und floh ins Ausland.

“Frauen mögen die Schlacht gewonnen haben; der Krieg jedoch geht weiter”, sagte Asma, vorausschauend wie immer.
Auch nach diesem Fall wurden weitere Argumente gegen das Recht der Frau auf selbstbestimmte Wahl des Ehemannes vorgebracht. Das einige Zeit später verkündete abschließende Urteil forderte eine grundsätzliche Novellierung des Familienrechts, um die elterliche Autorität zu stärken und Brautwerbung, außerehelichen Beziehungen und “geheimen” Freundschaften und Eheschließungen Einhalt zu gebieten. (Erst im Dezember 2003 wies das Oberste Gericht diese Auffassungen zurück und stützte das Recht der erwachsenen Frau auf selbstbestimmte Wahl des Ehemannes).

Die Propaganda gegen Asma – “verwestlicht” und “religionsfeindlich”, “pakistanfeindlich” – hatte mit der Realität nichts zu tun. Stolz vertrat sie Pakistan auf internationalen Veranstaltungen, wo sie die typische Kurta Shalwar mit einem Dupatta-Schal trug. Obgleich sie selbst aus Liebe geheiratet hatte, war sie familienorientiert und entwickelte entschlossen und mit Fingerspitzengefühl ein komplexes, gemeinschaftliches Familiensystem - als Ehefrau, Schwiegertochter, Mutter, Tante und Großmutter. Unermüdlich und mutig setzte sie sich für die Rechte der unterdrücktesten Bevölkerungsschichten ein. Sie war keineswegs religionsfeindlich, stellte sich aber gegen den Missbrauch von Religion oder jedweder anderen Institution, um Menschen auszubeuten.

Asma war zutiefst davon überzeugt, dass jeder Mensch unabhängig von seiner sozialen Schicht, Herkunft und Religion die gleichen Rechte hat. Und genau das fanden ihre Gegner, die ohne ihre hinterhältigen Angriffe bedeutungslos geblieben wären, so bedrohlich.  
Asma lebt unterdessen weiter - ihr Vorbild und ihr Vermächtnis weisen zukünftigen Generationen von Menschenrechtsaktivist_innen den Weg.

Deutsche Übersetzung: Bettina von Arps-Aubert